Helga Anschütz an Bitris Ögünc (anläßlich seines Dienstjubiläums)

An einem Sonntag des Jahres 1968 in Mar Schmuni in Midyat, dem Zentrum des Tur Abdin:
Aus dem Schulraum neben der Kirche klingen Kinderstimmen. Sie lernen im Chor ihre alte Kirchensprache Syrisch-Aramäisch. Ihr Lehrer, Malfono Boutros Ögiinc, zeigt mit seinem Stock auf die Tafel, und die Schüler lesen zusammen laut vor: "Abun dbaschmayo" - den Anfang des Vaterunsers. Wehe, wenn ein Schüler nicht bei der Sache ist! Dann wird der Stock eingesetzt.

Die strenge Erziehung hat sich damals aber gelohnt. Schon die Zehnjährigen singen im Wechselgesang an den Steintischen die Psalmen mit, oder eine der Hymnen von Mar Afrem, dem Heiligen Efraim von Edessa, den auch die katholische Kirche als Heiligen anerkennt. Er wird die "Harfe des Heiligen Geistes" genannt. Der fleißige Lehrer Boutros hat seinen Schülern viele Hymnen beigebracht, auch die von "Beth Nahreen", der Heimat zwischen den Strömen.

Auch die Mädchen wurden vom Malfono aktiviert. Sie haben bei ihm Gleichnisse aus der Bibel gelernt. So ziehen sie am Karfreitag im Lichterzug als " törichte " oder "kluge " Jungfrauen durch die Kirche. So hat Malfono Boutros die Bibel für seine Schüler lebendig gemacht. Das waren noch Zeiten in der Kirchengemeinde von Mart Schimuni in Midyat 1968! Streng hat der Malfono den Mädchen und Jungen in seiner Gemeinde die alten Traditionen und die Geschichte seines Volkes gelehrt: Daß seit mehr als 1600 Jahren Christen auf dem "Berg der Gottesknechte " leben, daß tausende von Märtyrern in der Römer- und Perserzeit für ihren Glauben starben: die Märtyrerin Mart Schimuni mit ihren Kindern, das junge Geschwisterpaar Mar Bossos und Schuschan, das die steilen Felsen des Jehenna-Tals heruntergestürzt wurde, Mar Jakub, der Zerschnittene, der Arzt Mar Dornet von Killit und viele andere. Oder die Legende von den Weisen aus dem Morgenland, die auf ihrem Rückweg aus Palästina die Marienkirche in Hah gründeten. Das Heimatdorf unseres Jubilars war zeitweise Bischofssitz und ist heute ein großes Ruinenfeld mit einigen Häusern und Kirchen.

Leider wurde unser fleißiger Lehrer, der neben dem Unterricht viele alte Handschriften aus seiner Heimat in Altsyrisch abschrieb und damit auch den ausgewanderten Glaubensbrüdern in Europa, Amerika und Australien zugänglich machte, in seiner geschichtsträchtigen Heimat immer unzufriedener. Das Fernweh hatte auch ihn ergriffen, und so ließ er sich von der deutschen Arbeitsamtsstelle in Mardin als Gastarbeiter anwerben. Sozusagen über Nacht verließ er Midyat, die Kirche Mart Schimuni mit dem strengen, aber allseits verehrten Bischof Yuavannes Afrem, seine Schüler und sein Haus, um in einer Glasfabrik im fernen "Land der Franken " sein Glück zu suchen.

Aber die Heiligen vom Tur Abdin waren damit sehr unzufrieden, und mit ihren spirituellen Kräften bewirkten sie, daß seine schreibgewohnten Hände von den schweren Glasplatten, die er schleppen mußte, arg zerschnitten und gequetscht wurden. Da sah er ein, daß er nicht einfach vor ihnen, ihren Gräbern, den Klöstern und Handschriften davonlaufen konnte und ließ sich endlich, nach mühsamen Vorbereitungen, auch in der Communität Imshausen bei Bebra, in Midyat zum Priester für die neue Diözese in Europa weihen.

Hier war er lange Zeit der einzige Hirte seiner zerstreuten Herde. Die Gastarbeiter aus Midyat und den Dörfern des Tur Abdin hatten sich über ganz Deutschland verteilt. Die Gottesdienste kamen ihnen fremd vor, nicht nur wegen der Sprache. Jetzt aber bekamen sie ihren "Kasho" (Priester), der per Bus und Bahn unermüdlich kreuz und quer herumfuhr, Gottesdienste abhielt, vor allem aber auch Taufen, Hochzeiten und Totenfeiern, und im übrigen seinen Gemeindemitgliedern in vielem beistand.

Aber nach 1976 folgten immer mehr Dorfpriester aus dem Tur Abdin den Ausgewanderten, und vieles hat sich seitdem geändert. Es gab auch viele Streitigkeiten. "Kasho" Boutros blieb schließlich im Raum Augsburg. Tapfer widerstand er allen Angriffen und Vorwürfen, sogar Morddrohungen, wie ein echter Tur Abdiner.

Mein Bruder Boutros! Hör auch im fernen Frankenland weiter auf die Stimmen aus dem Tur Abdin und lehre die Deinen, wider alle Versuchungen am Glauben ihrer Vorfahren aus dem Zweistromland Beth Nahrin festzuhalten.

Deine Schwester Helga

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