Mar Gabriel Verein - Mitteilungsblatt 1995


Mord an Dr. Edvard Tanriverdi am 18.Dez. 1994 in Midyat (Barbara Neppert)

Der 56 jährige Edvard Tanriverdi, verheiratet und Vater von vier Kindern, war seit 27 Jahren als praktischer Arzt in Midyat tätig (Anm. d. R.: "Westliche" Vornamen sind in und um Midyat bei den syrischen Christen nichts Ungewöhnliches). Er war syrisch-orthodoxer Christ, hatte aber auch viele moslemische Patienten, Kurden und Türken. Er hatte zu allen Teilen der Bevölkerung und auch zu staatlichen Stellen gute Kontakte, aber hielt sich aus der Politik heraus. Wer die Behandlungskosten nicht bezahlen konnte, wurde von ihm kostenlos behandelt. In der letzten Zeit sollen viele Menschen, die aus den Dörfern vertrieben worden und nach Midyat gezogen waren, seine medizinische Hilfe gesucht haben.

Am 18. Dez. 1994 war Dr. Tanriverdi zusammen mit anderen Personen zum Abendessen beim Staatsanwalt von Midyat in dessen Haus in Estel (moderner Ortsteil von Midyat) eingeladen. Gegen 22 Uhr verließ er das Haus des Staatsanwaltes zusammen mit einem (oder mehreren?) moslemischen Gästen, sicher jedenfalls mit dem Sohn eines ehemaligen Kaymakam (etwa: Oberbürgermeister) von Midyat, den er nach Hause brachte. Als Dr. Tanriverdi vor seinem eigenen Haus angelangt war, wurde er von zwei bewaffneten Männern überrascht, die offensichtlich auf ihn gewartet hatten. Nachbarn hörten, wie sie riefen: "Deine letzte Stunde hat geschlagen!" während er rief: "Tut es nicht!" Dann feuerten beide Personen auf ihn, einer mit einer Pistole, der andere mit einem Maschinengewehr.

Die Christen aus dem Tur Abdin vermuten hinter diesem Mordanschlag die islamischen Kräfte (von ihnen "Hizbullah" genannt), die auch noch die letzten Christen aus der Region vertreiben wollen. Am 16. Februar 1994 wurde bereits einer der vier Muhtar (etwa: "Ortsvorsteher") von Midyat, der Christ Yakub Matte, ermordet - auch er wahrscheinlich von Islamisten. Auch er war eine Persönlichkeit mit guten Kontakten zu alteingesessenen Moslems und den Behörden. Nach seiner Ermordung soll die Nachricht verbreitet worden sein, daß eine weitere führende christliche Persönlichkeit, erschossen werden würde. Dr. Tanriverdi und ein weiterer Arztkollege wußten, daß sie damit gemeint sein konnten. Letzterer flüchtete nach Europa. Dr. Tanriverdi fühlte sich als nun einziger christlicher Arzt dieser Region dazu verpflichtet, zu bleiben. Er verhielt, sich vorsichtig, ging nie mehr nach 18 Uhr aus dem Haus. In Midyat gibt es Militär und vor allem viele Dorf Schützer, die die Stadt kontrollieren. Es wird berichtet, daß sich außer ihnen nachts niemand auf die Straße traut. Daher erscheint es ungewöhnlich, daß Tanriverdi zu einem abendlichen Besuch zum Staatsanwalt von Midyat nach Estel fuhr und erst spät abends zurückkam. Es stellt sich die Frage, ob er mit Schutz gerechnet hatte.

Zu den Hintergründen der Tat ist vielleicht noch bemerkenswert, daß etwa eine Woche vorher ein kurdischer Lehrer von zwei Männern mit den gleichen Waffen, einer Pistole und einem Maschinengewehr, ermordet worden sein soll. Hinter diesem Anschlag wird aber nicht die "Hizbullah", sondern die "Konterguerilla" vermutet, eine geheime bewaffnete Organisation des Militärs.

Mehrere Personen aus dem Ausland haben nach dem Mord an Dr. Tanriverdi versucht, von den Bewohnern des Klosters Mar Gabriel telefonisch genauere Informationen zu erhalten. Zwei Tage lang bekamen sie keinen Anschluß, bei manchen Versuchen sagte eine Stimme des Amtes: "Kein Anschluß unter dieser Nummer".

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