Mar Gabriel Verein - Mitteilungsblatt 2004


AUF DEN SPUREN VERGESSENER CHRISTEN IM ORIENT

Helga ANSCHÜTZ

Fortsetzung

Von einigen meiner Studenten am GoetheInstitut in Rothenburg o. T. erfuhr ich zu meiner Überraschung, sie seien die Nachfahren der uralten Völker der Assyrer, Aramäer und Babylonier, von denen wir glaubten, sie seien längst ausgestorben. Aber offenbar hatten sie die vergangenen 4000 Jahre überlebt, seit etwa 1800 Jahren als Anhänger des aus dem Orient stammenden Christentums.
Als Flüchtlinge sind sie in unserer Zeit auch bis Deutschland gekommen und haben bei uns Asyl vor Verfolgungen durch kriegerische kurdische Nachbarn gefunden. Denn das „wilde Kurdistan“ in der Südosttürkei, im NordIran und NordIrak ist ihre Heimat zwischen Euphrat und Tigris. Heute sind die Nachkommen von Assyrern, Aramäern und Urchristen über die ganze Welt verstreut,
Wo leben sie jetzt?
Haben die Traditionen der alten Reiche und deren Kulturen unter ihnen überlebt?
Diesen und anderen Fragen nach den totgesagten Völkern des alten Orients wollte ich nachgehen.
Spielen Ninive, Assur und Babylon in ihrem Bewusstsein noch eine Rolle ?

 

Also packte ich im September 1961 alles, was man als Deutsche im Orient brauchte, in mein neues Auto, einen NSU Prinz III und startete in Richtung Teheran, wohin mich das GoetheInstitut an seine Zweigstelle versetzt hatte. Unter meinen Studenten dort lernte ich auch gleich einige Assyrer aus Teheran und später im nordpersischen Urmia auch einheimische Assyrer kennen und hörte von ihnen, wie sie ihre Herkunft verstanden. Grausame Verfolgungen und Vertreibungen aus ihrer Heimat durch Tataren, Kurden und Türken haben dem alten Kulturvolk einen großen Teil seiner Traditionen und Kultur geraubt. In Amerika, Australien und Europa entwickelte sich unter ihnen ein neues Nationalbewusstsein, das die alten Werte in den Hintergrund drängte.
Aber in einigen abgelegenen und unwegsamen Gegenden hielt sich das assyrischaramäische Volk bis in die Gegenwart hinein: am UrmiaSee in NordIran, in einigen alten Dörfern des Nordirak, das von Zerstörungen verschont blieb und im Tur Abdin, dem Gebirgsplateau zwischen Tigris und syrischer Ebene in der Südosttürkei. Hier hatte sich das einheimische Leben vorübergehend von den Verwüstungen vieler Kriege erholt. Der Tur Abdin und seine syrischchristliche, aramäische Bevölkerung blieb das Ziel meiner jahrelangen ethnoreligiösen Forschungen. Von den Christen im Tur Abdin erfuhr ich zum ersten Mal im Winter 1963/64. Einer meiner Studenten im GoetheInstitut Brilon berichtete in einem Referat über die Osterbräuche seines Volkes. Es seien Nachfahren der Assyrer, die ich schon im Iran kennen gelernt hatte. Sofort fragte ich den Studenten nach Einzelheiten vom Leben in seiner Heimat und beschloss danach, in den Tur Abdin den „Berg der Gottes Knechte“ zu fahren.
Für diese Reise beantragte ich 2 Monate unbezahlten Urlaub und fuhr mit einem Empfehlungsschreiben des Studenten an den syrischorthodoxen Erzbischof von Mardin und den Dorfpriester Abdullah Gülce von Midyat mit meinem VWKäfer in das „Wilde Kurdistan“. Meine türkischen Bekannten in Istanbul und Ankara waren entsetzt, als sie hörten, dass ich nach Mardin reisen wollte. Ich solle lieber an die Mittelmeerküste fahren, als zu den wilden Kurden im Südosten der Türkei. Doch ich fuhr weiter auf den holperigen Wegen in Richtung Mardin an der türkischsyrischen Grenze!
Hinter der Großstadt Gaziantep änderte sich das Landschaftsbild: Überall ragten Kulturhügel aus dem weiten Feldern mit Anpflanzungen aus Olivenbäumen, Pistazien, Weinstöcken und Rizinus Zeugen alter Kulturen. Die rote Erde der „Terra – Russa“ vermittelte den Eindruck von Fruchtbarkeit, der Grundlage einstigen Reichtums. Bis hierhin kamen Assyrer, Babylonier und Hethiter. Heute sieht man Kurden in ihren malerischen Trachten auf den Eseln zwischen den Anpflanzungen reiten.
Die Gewässer, von dem benachbarten schneebedeckten Taurus Gebirge herabströmend, bilden weiter unten grüne Flussoasen und münden nach 2000 km. im persischen Golf. Wir sind in Mesopotamien, dem Land zwischen Euphrat und Tigris, der Wiege der Menschheit.
Die Fahrt auf den Spuren alter Kulturen führt weiter Richtung Osten, bis die Höhlen im Kalksandstein der alten Metropole Edessa Urhai Urfa auftauchen. In dieser Stadt aus AssyrerZeiten entsteht jetzt durch den nahen EuphratStaudamm ein neues, geschäftiges Leben. An den Kleidern unterscheiden wir Kurden, Türken und Araber. Von den ursprünglichen Einwohnern, christliche Aramäer und Armenier, sind im l. Weltkrieg fast alle Spuren vernichtet worden.
Zu Jesus Zeiten herrschte hier das christliche Reich Osroene unter den Königen der Abgariden. Die Legende berichtet vom Briefwechsel Abgars des V. mit Jesus Christus, dem vor den Verfolgungen Asyl in Urhai angeboten wurde. Aber Jesus schickte den Heiligen Taddäus an seiner Stelle als Missionar nach Osroene. Von hier aus soll er das Christentum nach Mesopotamien und Persien bis nach Indien hin verbreitet haben.
In Urfa trifft man auch auf die Spuren von Abraham: Am Fuß der Zitadelle aus dem Anfang des 3. Jhs. trifft man viele Wallfahrer aus allen Teilen der Türkei. Sie füttern die zahlreichen Karpfen, die sich gierig auf den Salat stürzen, den die Touristen in den Teich „der NoahsQuelle“ hineinwerfen.
Diese Fische sollen an Abraham erinnern, der hier geboren sein soll. Die Karpfen im Teich seien die Zeugen eines großen Feuers, das der Assyrerkönig Nimrut entfachen ließ, um das Kind Abraham zu verbrennen, denn der König sah dieses als Gefahr für seine Herrschaft an. Die Sage berichtet weiter, das Feuer sei durch den Teich gelöscht und die Flammen zu Fischen geworden. Wer heute einen der heiligen Fische verspeise, werde mit Blindheit bestraft.
Diese und andere Überlieferungen, die an die Bibel und die Assyrer erinnern, sind unter den christlichen Aramäern und Assyrern überall in der Welt noch lebendig. Edessa spielt in der Geschichte des syrischaramäischen Christentums eine bedeutende Rolle. Hier lehrte der Heilige Ephraim/Ephräm, Theologe und Dichter von Hymnen, die heute noch zum Kulturgut der Menschheit gehören. Ephräm wurde sogar in die Reihen der katholischen Heiligen aufgenommen. In der Tradition der syrischen Christen werden die Werke von „Mar Ephräm“ bis heute in den Klöstern und Priesterseminaren in hohen Ehren gehalten.
Man muss sich vom geschichtsträchtigen Stadtbild von Edessa losreißen, um die überlebenden Christen von heute 181 km weiter östlich in der Provinzhauptstadt Diyarbakir zu erreichen. Heute leben in dieser Stadt mehr als eine Million Einwohner, hauptsächlich kurdische Flüchtlinge aus den östlichen Grenzgebieten. Sie halten Diyarbakir für ihre Hauptstadt und wissen nicht, dass sie in einer der ältesten Städte der Welt im Schatten der größten Stadtmauer leben.
Das Reich Mitanni, Assyrien, Persien, Rom, Byzanz, Araber und Türken haben hier ihre Spuren hinterlassen. Bis zum l. Weltkrieg war ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung christlich: Armenier und Aramäer wurden damals bis auf Reste vertrieben oder sogar getötet. Kurden traten an ihrer Stelle. Heute ist die Stadt ein NATOZentrum.
Wir lassen die schwarze Basaltmauer hinter uns, nicht ohne das vorläufig letzte Mal im einfachen Hotel eine Dusche genossen zu haben. In der Provinzhauptstadt Mardin treffen wir erstmalig eine größere Gemeinde syrischorthodoxer Christen. Sie leben zwischen kurdischen Flüchtlingen, Türken und Arabern in den engen Gassen, die sich terrassenförmig auf einem Bergkegel entlang ziehen. Weit unten kann man die Lichter der nahen syrischen Grenzstadt Kamischli erkennen. Es ist fast 10 Uhr nachts und stockdunkel. Endlich haben wir uns zur syrischorthodoxen Kirche der „40 Märtyrer“ durchgefragt. Hier residiert Metropolit Philoxenos Yuhanna Dolapönü, dem wir den Brief meines Studenten aus Brilon überbringen wollen. Nach langem Klopfen an die Tür in der dicken Mauer aus Kalksteinen meldet sich endlich die tiefe Männerstimme des Wächters: „Hier schläft schon alles“, antwortet er auf mein Rufen, „heute Nacht beginnt der Ostergottesdienst. Kommen Sie um halb fünf zum Eingangstor“.


 

Am Ostermorgen standen wir pünktlich vor der Kirche. Die Glokken hatten die Gläubigen schon zum Gebet gerufen. Man hörte monotone Gesänge aus dem Kircheninneren. Immer mehr Gläubige strömten in die Kirche, Männer und Frauen getrennt. Eine hölzerne Wand verhinderte Blicke zwischen den Geschlechtern. Alle hatten den Kopf bedeckt, die Männer mit dunklen Mützen, die Frauen mit bunten Kopftüchern. Gebete und Psalmen erklangen in der mir damals unbekannten Sprache SyroAramäisch, der Kirchensprache der syrischen Christen. Meistens sprachen sie dort Turoyo, einen aramäischen Dialekt. In Mardin aber Arabisch, in vielen Dörfern Kurdisch. Die Osterliturgie dauerte 4 Stunden. Ohne Müdigkeit zu zeigen, zelebrierten der Erzbischof, mehrere Priester, Diakone und Subdiakone, unterstützt von Sängern und Vorlesern, das höchste Fest der orientalischen Christen.
Nach dem Gottesdienst eilten die meisten Gläubigen nach Haus, um nach 8 Wochen Fastenzeit endlich richtig essen zu können. Einige Männer eilten zum großen Empfangsraum, um dem Erzbischof fromme Segenswünsche zum Osterfest zu übermitteln. Der weißbärtige Kirchenfürst empfing sein Kirchenvolk mit schwarzem Kaffee und Keksen und unterhielt sich mit seinen Gästen, darunter auch türkische Beamte und muslimische Notabeln. Metropolit Dolapönü stand bei allen seinen Mitbürgern in hohem Ansehen. Er konnte sich auf Türkisch, Arabisch, Kurdisch und Aramäisch mit ihnen unterhalten. Er wurde als Gelehrter und Heiliger verehrt, hatte viele historische und theologische Bücher geschrieben und übersetzt, eine Zeitschrift „AlHikmat“ (Weisheit) herausgegeben und viele tiefschürfende Diskussionen mit Muslimen geführt, 25 Jahre lebte er als Einsiedler in einer Höhle an einer steilen Bergwand beim Kloster Deir ezZaafaran. Er lebte sehr bescheiden und war immer für sein Kirchenvolk da. Ich konnte ihn noch vor seinem Tod 1969 erleben und durfte einen Blick in seine Bibliothek neben dem Empfangsraum werfen, wo Hunderte alter Manuskripte aus mehr als 1000 Jahren gerettet waren. Er zeigte mir ein Evangeliar aus dem 5. Jh. in Estrangelo, Altsyrisch. Ein Manuskript aus dem 14. Jh. enthielt wunderbare Miniaturen mit Darstellungen aus der Heilsgeschichte. Diese Handschrift war auf Gazellenhaut geschrieben und in Leder gebunden. Der Kirchenführer wies auch auf die Namen der Kopisten hin, zumeist Mönche, Priester, Diakone und Kirchenlehrer, die in einem besonderen Absatz (Kolophon) ihre Namen und Herkunft eingetragen hatten. So kennt man heute das Alter einer Handschrift. Diese Tradition konnte durch besondere KopistenSchulen ihrer Nachwelt erhalten werden.
 

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