Mar Gabriel Verein - Mitteilungsblatt 2004


AUF DEN SPUREN VERGESSENER CHRISTEN IM ORIENT

Helga ANSCHÜTZ


Als wir uns von Metropolit Philoxenos verabschieden wollten, mahnte er uns: „Vergessen Sie uns und den Bezirk von Mardin nicht, besuchen Sie uns im Kloster Deir ezZaafaran!“ Das war von 12071923 Sitz des syrischorthodoxen Patriarchen, aber geistiges Zentrum schon in persischer Zeit. Das Christentum wird mit Mar Augin und seinen Schülern im 4. Jh. angesetzt. Römer und Byzantiner hielten hier strategisch wichtige Grenzfestungen gegen das Perserreich.
Auf dem holprigen, kurvenreichen Weg zum 6 km entfernten Kloster stießen wir auf die Spuren europäischer Großmachtpolitik aus den Zeiten vor und nach Christus. Oben auf den schroffen Felsen erblickt man Ruinen von Burgen und Befestigungen. Aus christlicher Zeit stammen Kirchen und Klöster, die das Kloster Deir ezZaafaran/das „Gelbe Kloster“ umgeben.


Als wir an das Tor des großen Bauwerks klopften und die Segenswünsche des Metropoliten übermittelten, baten uns einige Mönche und Schüler freundlich herein. Zuerst wurde uns der schwarze, stark gesüßte Kaffee angeboten. Dann ging es zur Besichtigung: Zuerst in die unterirdischen Gewölbe. Dort musste man sich unter einer Teropeldecke tief bücken. Hier lag früher ein persisches Heiligtum. Mönch Ibrahim berichtete von einem Gast aus Deutschland, den er nachts dabei erwischt hatte, wie er den Boden aufgrub, um verbotenerweise, nach alten Manuskripten zu suchen.
Im Klostergarten tranken wir sauberes Quellwasser aus einem Brunnen, der eine gut gepflegte Obstanpflanzung bewässerte. Dabei fiel unser Blick auf die Höhlenkirchen, die von Eremitenleben auch der Erzbischof Philoxenos zeugen. Heute sind die Höhlen verlassen.
Als wir fotografieren wollten, kamen plötzlich Soldaten misstrauisch heran gestürmt. Sie befürchteten Spione, die die gegenüber liegende Radaranlage auskundschaften wollten. Von der urchristlichen Geschichte hier hatten sie keine Ahnung. Endlich ging es weiter durch den „Berg der Heiligen“, den Tur Abdin; es war die erste Zuflucht verfolgter Christen in der Zeit der römischen und auch der persischen Herrschaft. Hier lebten bis um 1400 Tausende von Mönchen und Einsiedlern in Klöstern und Höhlen.
Die 102 km bis Midyat führten auf einer kurvenreichen unbefestigten Straße mit tiefen Schlaglöchern durch eine bis zu 1500 m hohe Karstlandschaft aus Kalksandsteinen. Zeitweise bedeckte Gestrüpp aus Steineichen die Berge. Inzwischen hatte sich der Himmel eingetrübt. Tiefe Wolken hingen in den Bergen. Es blitzte und donnerte und ein Wolkenbruch verwandelte die Straße in reißende Flüsse durch die sich der VW mühsam hindurchkämpfte. Im Dämmerlicht tauchten die flackernden Lichter von Midyat auf, und ich hielt auf dem großen Platz am Ortseingang. Damals war Midyat in das muslimische Estel und das christliche Midyat aufgeteilt.

Mühsam stieg ich aus dem lehmverschmierten Auto aus und wollte mein Empfehlungsschreiben an Priester Abdullah Gülce herausholen. Aber schon kam mir durch den Regen mit schwarzem Hut und Regenschirm eine mächtige, wohlbeleibte Gestalt entgegen. Er ließ sich durch die strömenden Gewässer der Gassen nicht daran hindern, mich feierlich zu begrüßen. Denn im Orient überholen die Nachrichten bereits die ankommenden Reisenden. Der Priester hatte mich schon erwartet und begrüßte mich nach orientalischer Art wie eine alte Bekannte. Er sprach den aramäischen Dialekt Turoyo, ich wahlweise Deutsch, Englisch, Arabisch und Persisch. Wir verstanden uns auf Anhieb. Einige Einheimische, die schon in Deutschland als Gastarbeiter bei der Bundesbahn gut verdient hatten, sprangen zur Not als Dolmetscher ein.
Schnell war mein mit Geschenken aus Deutschland schwer beladenes Auto leer geräumt, darunter auch der erste Kassettenrekorder in Midyat mit Grüßen von Verwandten aus Deutschland.
Priester Abdullah brachte mich zuerst über Stock und Stein zur Kirche Mart Schmuni. Dort wartete im Licht flackernder Kerzen der Bischof Yuavannes Afrem Bilgic auf mich. Die ehrwürdige Gestalt mit einem weißen, langen Bart lag auf einer Matratze, die mit buntem Stoff bedeckt war. Etwa 10 ältere Männer saßen auf Stühlen um ihn herum, tranken schwarzen Kaffee und aßen Süßigkeiten aus Trauben und Nüssen. Die selbst gedrehten Kerzen verbreiteten ein dämmeriges Licht. Damals gab es in Midyat nur stundenweise Strom von einem knatternden Generator. Regenwasser wurde in Zisternen gesammelt und in Tonnen gefüllt. Wasserflöhe hüpften auf der Oberfläche herum. Nur einmal in der Woche wurde geduscht, indem eine Kasserolle mit erhitztem Wasser über den Körper gegossen wurde.
Im einzigen Hotel von Midyat gab es Wasser nur aus der Tonne. 4 Reisende schliefen in einem Zimmer. 2 DM pro Person. Meistens waren es Kurden aus den Dörfern, die sich auf dem Markt von Midyat mit Waren eindecken und ihre Produkte verkaufen wollten.
Nach einigen Tagen lud mich der Bischof (der Hasjo) ein, in ein einfaches Zimmer seiner Residenz einzuziehen. Er beauftragte seinen Kirchenlehrer Boutros, mir die wichtigsten Orte im Tur Abdin zu zeigen. Ein Programm wurde aufgestellt, und jeden Abend mussten wir nach unserer Rückkehr Bericht erstatten.
Wir fuhren mit meinem VW auf steinigen Wegen durch Gebirge und Steineichenwälder. Oft begleitete uns die wuchtige Gestalt von Priester Abdullah, dessen Schilderungen über das Leben der Heiligen uns die Geschichte des Tur Abdin verständlich machte. Manchmal begleiteten uns einige Klosterschüler, die dem Priester beim Gebet vor den Gräbern der Heiligen assistierten. Die Toten wurden im Geiste der Besucher dadurch zu neuem Leben erweckt.


Auf die frühere Bedeutung dieser Region weisen die Überreste vieler Kirchen hin. In Basebrin z.B. mit einigen 100 Einwohnern besuchten wir 25 Kirchen oder deren Überreste. Hier lebte der Maphrian Schimun im 18 Jh., der von Kurden ermordet wurde. Sein Grab ist heute noch das Ziel vieler Wallfahrer. Durchs Gestrüpp kletterten wir im Gemäuer des Kloster Mar Dodo herum, wo einst Mönche und Nonnen in getrennten Flügeln lebten, und sich gegen kurdische Räuber behaupten konnten. Exkommunizierte Sünder durften nur in einer für sie eingerichteten Nische außerhalb der Kirche beten.
Auch in den anderen Dörfern des Tur Abdin erlebten wir die Spuren der Vergangenheit in den Gebäuderesten und den noch nicht in Vergessenheit geratenen Erzählungen meiner Begleiter.
Einen Höhepunkt bildete eine Fahrt nach Salah. Vom einstigen Sitz eines Sonderpatriarchen künden die Überreste des Klosters Mar Yakub mit schönen Kapitellen und Säulen. Nur mühsam konnte sich mein VW durch den zähen Schlamm durchkämpfen. Für 6 km brauchten wir zwei Stunden, oft mit kräftiger Hilfe der Priester und Mönche aus den Wasserlöchern gezogen. Der Bischof begleitete uns mit Gebeten.
Das Kloster wurde in neuester Zeit restauriert, nachdem Priester Abdullah, durch ein Gewitter zur Übernachtung in den Ruinen gezwungen, nachts eine Lichterscheinung in einer Mauerecke erlebt hatte. Später gruben Dorfbewohner dort ein Loch und fanden verwitterte Gebeine. Das, so glaubten alle, seien die Überreste von Mar Yakub, dem „Zerschnittenen“, der hier den Märtyrertod starb.
Im Besuchsprogramm des Bischofs durfte Hah nicht fehlen. Die Kuppel der Marienkirche ragte schon von weitem aus den Weinfeldern der Umgebung heraus. Dieses Bauwerk wurde der Sage nach von den 3 Weisen auf ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land errichtet. Im Mittelalter war Hah Bischofssitz, mehr als 50 000 Einwohner lebten damals in dieser fruchtbaren Gegend. In der Kirche trafen wir einige Frauen, die hier um Kinderreichtum beteten. Wir kletterten auf die Kuppel und blickten auf Wein und Obstbaumanpflanzungen.
Nur, wer das Kloster Mar Gabriel besucht hat, darf sagen, er kenne den Tur Abdin. Denn Deir Mar Gabriel war früher, von 1000 Mönchen bewohnt und das größte Kloster im Orient. Noch heute ist es das Zentrum der syrischorthodoxen Kirche in dieser Region, auch nach dem Auszug der Christen bis auf kaum 2000 Kirchenmitglieder. Das Besuchsprogramm vom „Hasjo“ hatte das Kloster bis zum Schluss gelassen. Die 30 km von Midyat Richtung der Kreisstadt Cizre konnte mein VW nur schwer bewältigen. In Blitz, Donner und Wolkenbrüchen tauchten schließlich die verfallenen Mauern des Klosters auf. Wir mussten uns aber noch 2 km durch Steineichengestrüpp und Kalkfelsen durchkämpfen, bis wir das berühmte Bauwerk erreichten. Sofort begrüßte uns der Klostervorsteher Isa Cicek mit einem Mönch vor der verfallenen Mauer, denn unsere Ankunft war ihnen ohne Telefon, nur von Mann zu Mann, angekündigt worden.


Heute, nach 40 Jahren und Emigration, erreicht man das mächtige, nach einem kurdischen Raubüberfall wiederhergestellte Gebäude auf einer Asphaltstraße. Es gibt Telefon und Fax, sogar fließendes Wasser. Damals kletterten wir mühsam durch eine Mauer in das Innere. Bei Kerzenlicht wurden wir zuerst in die Gabrielskirche mit den byzantinischen Goldmosaiken geführt, das die Plünderungen durch die Tataren um 1400 bis heute überstanden hat.
In der Dunkelheit füllte sich der Kirchenraum mit Frauen, deren Tracht auf Kurden schließen ließ. In der Tat kamen Muslime und Jesidi (sog. Teufelsanbeter) zum Kloster in der Hoffnung, der Heilige Gabriel könne sie von Krankheit und Kinderlosigkeit erlösen, wenn sie eine Nacht in seiner Kirche zubrächten. Nach alter Klosterregel mussten hilfesuchende Gäste 3 Tage lang im Kloster aufgenommen und auch mit Essen versorgt werden.
Es dauerte mehrere Stunden, bis uns der Kirchenlehrer Isa alle Räumlichkeiten des Klosters gezeigt hatte. Er wohnte mit Frau und 6 Kindern im Kloster und hatte sich gegen das Zölibatsgebot für Mönche durchgesetzt.
Während der Besichtigung rauschten schwarzgekleidete Gestalten an uns vorbei: 12 Nonnen aus den Dörfern hatten sich für das Klosterleben entschieden. Sie waren für das Essen der Mönche und Gäste und die Betreuung der weiblichen Besucher verantwortlich.
Wir erhielten das Schlafzimmer für besondere Gäste mit 2 großen Bettgestellen aus Metall mit geblümter Wäsche. Zum Waschen gab es eine Schüssel. Zum Essen wurden wir durch eine Glocke gerufen. In einem dunklen Gewölbe saßen 30 Schüler in schwarzer Kleidung und blickten uns neugierig an. Es gab Spagetti in Tomatensoße, denn damals aßen Mönche und Nonnen kein Fleisch. Alle aßen aus Blechtellern, auch den selbsthergestellten Joghurt c von den Schafen und Ziegen, die in den Steineichenwäldern des Klosters weideten.
Nach mehreren Jahren gaben die Mönche das vegetarische Essen auf und verspeisten die Schafe und Ziegen des Klosters. Langsam begann die abendländische Lebensweise durch die besuchsweise zurückkehrenden Gastarbeiter auch das jahrtausende alte Leben grundlegend zu beeinflussen. Zwar benutzten die Nonnen z. B. elektrische Geräte, wie Kochherde und Waschmaschinen, viele Neubauten wurden aus Beton errichtet aber das traditionelle Leben blieb so wie früher, z. B. das Hochzeitsritual oder die Kleidung. Mehrfach ermahnte mich der Bischof, lange Ärmel und Röcke zu tragen. Den Kopf bedeckte ich weisungsgemäß mit einem dunklen Kopftuch. Aber trotzdem wirkte ich wie eine moderne Frau. Der Bischof hatte aber Gefallen an mir gefunden und hoffte, mich ändern zu können. Immer wieder fragte er mich, ob ich mich nicht den Nonnen im Kloster anschließen und ein frommes Leben führen wolle.
Meine Liebe zu seinen Traditionen stärkte er, indem er an geheimen Orten versteckte uralte Handschriften aus Gazellenhaut mit Silberdekkel und Miniaturen aus der Heilsgeschichte von einem Mönch herbeiholen ließ; ich durfte sie ausführlich fotografieren. Schon öfter hatten kurdische Räuber versucht, sie im Auftrag ausländischer Geldgeber zu stehlen, jedoch vergeblich!


Obwohl ich mich im Tur Abdin und besonders im Kloster Mar Gabriel wie zu Hause fühlte, musste ich nach einiger Zeit Abschied nehmen, weil mich der Dienst im GoetheInstitut nach Deutschland zurückrief. Vorher solle ich aber unbedingt das Grab des Noah in der Kreisstadt Cizre, einem berühmten Tigrisübergang, besuchen, riet der Bischof. Also fuhren wir durch das Gebirge 80 km bis schwarze Basaltblockfelder im Osten auftauchten. Von der Tigrisbrücke aus persischer Zeit waren nur Ruinen zu sehen, auch von der alten Festung der heutigen Kurdenhauptstadt und dem früheren Bischofssitz Cizre im Dreieck Türkei, Syrien, Irak. Als wir uns durch die Esel in der Stadt kämpften, hielt uns plötzlich ein Polizist an. Schrecken erfasste uns, weil hier ein Sperrgebiet wegen der ständigen Kurdenaufstände herrschte.
Der Polizist brachte uns in ein Büro, wo ein freundlicher uniformierter Soldat vor einem Buch sitzend fragte: „Sind Sie nicht aus Deutschland? Dann können Sie mir helfen! Ich lerne gerade Deutsch und weiß nicht, ob ich hier den Dativ oder den Akkusativ nehmen soll“. Ich konnte ihm bei der Übung helfen und erklärte ihm, warum er beim Verb „stehen“ den Dativ nehmen musste: auf die Frage, wo? Mit „vielen Dank“ verabschiedete er mich und erklärte mir den Weg zum „Grab des Noah“, ein berühmter Wallfahrtsort vor der Stadtmauer.
Zurück in Midyat wurde der VW unter vielen Segenswünschen gepackt. Oben auf dem Gepäckträger lagen 3 große Säcke mit geschrotetem Weizen (Bourghol), großen getrockneten Bohnen, Erbsen mit Zukkerguss und einer Süßigkeit aus Weintrauben mit Walnüssen. – Alles für die Verwandten in Deutschland, die ich nach meiner Rückkehr unterwegs war der Gepäckträger einige Male unter seiner Last zusammengebrochen und mit Seilen wieder repariert worden prompt bei den Empfängern ablieferte und darüber berichtete, wie es den Daheimgebliebenen erging.
Ich hatte auf dieser und späteren Reisen einen Blick in das Leben vergessener Christen zwischen Kurden im Orient werfen können, eine inzwischen fast versunkene Kultur.
Schon vor unserer Abfahrt stieß der Motor meines VW krächzende Geräusche aus. Er hatte schon 120 000 km bewältigt, davon ca. 12 000 im Tur Abdin. Aber es gab dort keinen Service, und so starteten wir in der Hoffnung auf die Hilfe Gottes – Richtung Europa. Doch schon nach 52 km beim Dorf Apshi gab es einen lauten Knall, Rauch quoll aus der Motorhaube. Der Motor war in Stücke explodiert und stand.


Bei sinkender Sonne hielt neben uns ein Jeep, und einige Forstbeamte kletterten heraus, betrachteten das Unheil und stellten fest: Da ist nichts mehr zu retten. Sie müssen nach Istanbul (ca. 1200 km durch Anatolien). Die Beamten hielten einen Lastwagen an wahrscheinlich den letzten vor Anbruch der Dunkelheit dann wurden wir zu einem Steinbruch geschleppt und mit Hilfe der Dorfbevölkerung von oben auf das Fahrzeug gehievt. Dann ging es unter lauten Zurufen der weiblichen und männlichen Passagiere auf dem Lastwagen nach Mardin, dann auf einen weiteren, der Richtung Istanbul fuhr. In Tag und Nachtfahrt transportierte uns der Lastwagenfahrer für 1000 türkische Lira nach Istanbul, wo wir nachts in einer Garage abgesetzt wurden. Dann wurde mit Schwierigkeiten der Autoclub in Frankfurt angerufen und innerhalb von 3 Tagen konnten wir den neuen Motor in Istanbul aus dem Zoll holen, l Tag Einbau, dann ging es ab Richtung Deutschland, was wir Tag und Nacht rechtzeitig erreichten.

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