Mar Gabriel Verein -
Mitteilungsblatt 2002
Höllisches
Paradies.
Zu "Hans Hollerweger: Tur Abdin. Lebendiges
Kulturerbe.
Wo die Sprache Jesu gesprochen wird."
Freunde des Tur Abdin, Linz 1999
Seit
Mitte der achtziger Jahre lässt sich Hans
Hollerweger, emeritierter Liturgieprofessor aus
Linz, von dem uralten christlichen Kulturland Tur
Abdin zwischen oberem Tigris und syrischer Ebene
im Südosten der Türkei faszinieren. Immer
wieder flog er dorthin, um zu Fuß oder per Auto
bis zu 1700 Jahre alte Kirchen und Klöster auf
dem Tur Abdin, dem "Berg der Gottesknechte"
an der syrisch-türkischen Grenze zu besuchen und
zu fotografieren. Ruinen aus Kalksandsteinblöcken
ragen aus der kahlen, bis zu 1500 m hohen
Berglandschaft heraus, die sich, im Osten in
Basaltblockfelder übergehend, auf etwa 200 km
West-Ost zwischen der Provinzhauptstadt Mardin
und der Kreisstadt Cizre im Osten - ein Zentrum
kurdischen Widerstands gegen die türkische
Zentralregierung - auf einem Hochplateau
erstreckt. Etwa 100 km führt eine Straße im
Norden von der alten Brückenstadt Hasankeyf am
Tigris - sie wird in absehbarer Zeit im geplanten
Tigris-Stausee versinken - durch hügeliges Land
über den Steilabfall des Gebirges zum uralten
Handelszentrum Nusaybin, heute ein Grenzübergang
nach Syrien. Die Mühen der strapaziösen
Unternehmungen tragen jetzt ihre Früchte in
einem Bildband aus Glanzpapier, Umfang 367 Seiten.
Dem Leser eröffnet sich auf schönen Farbfotos
der Blick in ein scheinbares Paradies: Weite, grüne
Landschaften, wohlgepflegte Felder, Wein- und
Obstbaumanpflanzungen und trutzige Dörfer mit würfelförmigen
Häusern aus Kalksandsteinblöcken. Blumenwiesen
und blühende Bäume erwecken den Eindruck, dass
wir durch ein Paradies wandern; und überall
ragen aus der Hügellandschaft festungsartige
Bauwerke, oft größtenteils in Ruinen. Diese
mehr als 1000 Jahre alten Kirchen und Klöster
waren oft Zuflucht für die verfolgte christliche
Bevölkerung. Bis zum Ende des 19. Jhs. war es
den Christen in islamischen Ländern verboten,
einen Glockenturm zu bauen und die Glocken zu läuten.
Auch die schmalen, niedrigen Eingänge der
Gotteshäuser zeugen für die Flucht- und
Verteidigungsbereitschaft der Gläubigen, die
ihre Tradition auf die ersten Jahrhunderte nach
Christus zurückführen und sogar glauben, dass
sie durch den Apostel Thomas und die Heiligen
Thaddäus und Mari für das Christentum gewonnen
wurden. Sie sprechen einen altertümlichen aramäischen
Dialekt, ähnlich der Sprache Jesu, die damals,
im persischen, byzantinischen und römischen
Reiche Verkehrssprache zwischen Mittel- und
Kaspischem Meer war. Die Kulturen des Altertums
haben auch den Tur Abdin geprägt, wie
Hollerweger in einigen Details zeigt; allerdings
konzentriert er sich auf die christliche Kultur,
die für den Kundigen überall im Land Zeugnis
von einer bedeutenden Geschichte ablegt. "Lebendiges
Kulturerbe" hat Hollerweger den Bildband
genannt und hofft, dass diese christliche Kultur
trotz aller Widrigkeiten überleben wird. Der
Leser wird aber zunächst eingeführt durch Grußworte
des syrisch-orthodoxen Patriarchen Ignatius Zakka
I Iwas, der seinen Sitz im syrischen Damaskus hat.
Nach eigenen Angaben der syrisch-orthodoxen
Kirche leben in Syrien etwa 200.000
Kirchenmitglieder, zumeist in Aleppo, Damaskus,
Homs, sowie in Hassake und Qamishli an der türkischen
Grenze. Die meisten sind im I. Weltkrieg und
danach aus dem Tur Abdin, sowie aus den
Provinzhauptstädten Mardin, Urfa und Diyarbakir
nach Syrien geflohen und haben sich damals unter
den Schutz der französischen Armee gestellt. -
So traf Hollerweger seit 1985 auf eine von 10.000
auf kaum 2.000 Köpfe im Jahr 1999 schwindende
syrisch-orthodoxe Gemeinde in einigen Dörfern
und Klöstern im Tur Abdin. Diese Entwicklung
konnten weder Erzbischof Timotheos Samuel Aktas,
noch die Begeisterung und der unermüdliche
Einsatz von Hans Hollerweger und einiger Freunde
aufhalten, auch die Bemühungen der beiden
englischen Syrologen Sebastian Brock und Andrew
Palmer nicht, die in detaillierten Berichten die
Leser in die Geschichte der "Heimat einer
alten syroaramäischen Kultur" und "1600
Jahre Mor Gabriel" einführen. Sie und viele
andere, z.B. der Weltrat der Kirchen,
evangelische und katholische Hilfsorganisationen
und engagierte Einzelpersönlichkeiten haben sich
seit Jahrzehnten um die syrischen Christen im Tur
Abdin und den Erhalt ihrer eindrucksvollen Kultur
bemüht, die nur durch ihre Träger dem Untergang
entgehen kann. Davon erfährt man allerdings in
diesem Bildband nichts, auch nicht von den
zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, Missions-
und Reiseberichten der letzten 150 Jahre. So
verlassen, wie sie sich fühlten oder doch
glauben machen wollten, waren die syrischen
Christen vom Tur Abdin seitdem nicht; im
Gegenteil, Missionare von katholischen Orden und
amerikanischen evangelischen Missionskirchen
wollten in einer Aufbruchsstimmung um die Mitte
des 19. Jhs. den "verirrten" oder
"abtrünnigen" Christen den "wahren"
Glauben bringen, um sie fit zu machen für eine
Mission unter ihren moslemischen, kurdischen
Nachbarn. Kirchen, Schulen und Krankenhäuser
wurden gebaut, auch die Mädchen in eine Bildung
einbezogen. Viele syrisch-orthodoxe Christen,
durch Raub und Mord kurdischer Räuberbanden im
19.Jh. verarmt, verängstigt und von der
osmanischen Regierung im Stich gelassen, schöpften
durch das spendable Auftreten der Missionare neue
Hoffnungen, während die gleichzeitig stärker
fanatisierten kurdischen Halbnomaden und
Feudalherren neidisch auf die beschenkten
Christen blickten, die ihren Glauben nun auch
selbstbewußt zur Schau stellten. Der neue Hass
der Nachbarn, deren Zahl durch Zuzug aus dem
verarmten kurdischen Bergland jenseits des Tigris
ständig anwuchs, eskalierte im I. Weltkrieg im
Rahmen der Feldzüge und Verfolgungen gegen die
benachbarten christlichen Armenier. Kurden
stellten einen großen Teil der osmanischen
Truppen; sie benutzten die Gelegenheit, auch die
mit den Armeniern nicht verwandten syrischen
Christen, die sich aus der Politik immer
herauszuhalten versuchten, gleichzeitig mit zu
eliminieren oder zu vertreiben, um ihren Besitz
zu vereinnahmen. Sie überfielen die christlichen
Dörfer im Tur Abdin und töteten mehr als ein
Drittel der Bevölkerung. Nur einige Dörfer
konnten bis zum Kriegsende verteidigt werden.
Nach alter Tradition, die auf den Heiligen Ephräm
von Edessa (Mar Afrem, um 400) zugeht, haben
syrische Christen ihr schweres Schicksal im I.
Weltkrieg ("Seifo") in Hymnen gedichtet.
Diesen alten Traditionen und ihrer bedeutenden
Literatur auf Altsyrisch/Aramäisch, sowie
zahlreichen Inschriften verdanken wir die guten
Kenntnisse über die im Mittelalter berühmte
Kultur vom Tur Abdin, von denen Hollerweger in
seinem Bildband eindrucksvolle Beispiele zeigt.
Aber - wie lange bleiben diese Überreste der
syrisch-aramäischen Kultur noch lebendig? Von
vielen Kirchen und Klöstern - mehr als 100 im
Mittelalter - stehen kaum noch Mauerreste. Die
seit etwa 900 in den Tur Abdin hereinstürmenden
Kurdenstämme haben viele christliche Klöster,
Kirchen und Dörfer ausgeraubt und in Schutt und
Asche gelegt. Andere Neuankömmlinge aus dem
Osten, Moslems oder Anhänger vorchristlicher
Religionen, haben ihre Schaf- und Ziegenherden in
den alten Gemäuern untergebracht oder aber die
sorgfältig behauenen Steinblöcke der Mauern für
den eigenen Hausbau verwendet. Nur die in einigen
Dörfern zurückgebliebenen 2000 syrischen
Christen kennen noch die Ruinen und ihre
Geschichte. Die Legenden der Heiligen und Märtyrer
wecken diese Plätze in den Köpfen der
Nachfahren zu neuem Leben, anderenfalls bleiben
die Steine tot, auch für die Emigranten. - Als
ich Ende der sechziger Jahre mit Priester
Abdullah Gülce aus Midyat und einigen
Sonntagsschülern durch den Tur Abdin wanderte,
hielten sie unterwegs an oft hinter Gebüsch
versteckten Ruinen an, wo einst ein Heiligengrab
oder ein Gebetsraum stand. Jedem der Märtyrer
widmeten sie ein Gebet, und der Priester erzählte
vom Leben und Sterben der Heiligen, z.B. vom
persischen Arzt Dometius (Mar Dimet), der bereits
in den ersten Jahrhunderten zum Christentum übertrat
und viele Wunderheilungen vollbracht haben soll.
Er erlitt den Märtyrertod, wie Tausende seiner
Glaubensbrüder in Mesopotamien durch Römer und
Perser nach grausamer Folter. Mehrere Kirchen im
Tur Abdin und ein Kloster in seiner Wirkungsstätte
Killit tragen seinen Namen. Andere Märtyrer, wie
Mar Bossos, wurden der Überlieferung nach wegen
ihres christlichen Glaubens von persischen
Soldaten die "Höllenschlucht"
hinuntergestoßen. Grausam starb auch der Asket
Mar Jakub "der Zerschnittene" standhaft
für seinen Glauben. Das Kloster Mar Jakub bei
Salah trägt bis heute seinen Namen. Solche Überlieferungen
sollten unbedingt in einen Bildband über den Tur
Abdin gehören, um diese lebendig zu halten. Die
von mehreren deutschen und französischen
Wissenschaftlern herausgegebenen "Akten
Persischer Märtyrer" könnten die mündlichen
Erzählungen untermauern und den Jüngeren in der
Ferne eine Nachbearbeitung der Berichte ermöglichen.
- Die schönen Aufnahmen von glücklichen
Menschen und lachenden Kindern lassen den Leser
aber fragen, warum die meisten ihrer Glaubensbrüder
keine Kosten und Strapazen gescheut haben, um in
das kalte, oft unfreundliche Abendland zu
gelangen, wo viele in verwohnten Großstadthäusern
als Asylbewerber oder Hilfsarbeiter lange Zeit
ein oft freudloses Dasein fristen mussten, während
ihre stattlichen Steinblockhäuser leer stehen
oder von kurdischen Flüchtlingen aus dem Osten
besetzt wurden, die berühmten Weingärten und
Obstbaumplantagen verkümmerten. Nur wenige haben
in den Jahren zurückgefunden, höchstens auf
Besuch. Sie haben aber den 2000 Zurückgebliebenen
westliche Errungenschaften, wie Fernsehgeräte,
Satellitenschüsseln, Videorekorder und auch
moderne Kleidung geschickt oder mitgebracht. Die
gutgekleideten Dorfbewohner werden auch in dem
Buch gezeigt. Trotzdem geht der Auszug in den
Westen weiter, Videos von herrlichen Hochzeiten
und Luxus mögen manche in die Ferne locken, die
Sehnsucht nach den Verwandten in Europa, die
wegen ihrer Asylanträge oder Furcht vor den
Drangsalen des türkischen Militärdienstes nicht
in die Türkei fahren können oder wollen - die
Hauptursache für den Auszug ist die tausendjährige
Furcht vor neuen Verfolgungen und Diskriminierung
um ihres Glaubens wegen. Denn bis heute fühlen
sich syrische Christen in der Türkei trotz der
Trennung von Staat und Religion durch den
Republikgründer Atatürk nicht als vollwertige
Staatsbürger, auch wenn sie, wie in Istanbul, zu
Ansehen und Wohlstand gekommen sind. In Pass und
Ausweis ist die Religion vermerkt; im Militärdienst
kommt es zu Schikanen bis zur Zwangsbeschneidung.
Höhere Staatsämter bleiben ihnen verschlossen.
Den Klöstern im Tur Abdin wurde immer wieder der
Religions- und Sprachunterricht in Altsyrisch
verboten. Bekannte Mörder von christlichen
Dorfbewohnern wurden nicht verhaftet und unter
Anklage gestellt. Übergriffe durch Beauftragte
von Feudalherren bleiben ohne Folgen. Alles das
und alltägliche Diskriminierungen haben die
meisten syrischen Christen veranlasst, nach mehr
als 2000 Jahren Verfolgung und auch Blütezeiten,
von denen bereits assyrische Keilinschriften aus
dem 2. Jahrtausend v. Chr. zeugen, aus ihrem schönen
Paradies zu flüchten, selbst, wenn dann Ruhe
herrscht. Auch großzügige Spenden, wie z.B. ein
Mähdrescher für 120.000 DM, landwirtschaftliche
Projekte mit Landschenkung, Saatgutbeschaffung
usw. haben eher die Auswanderung vorangetrieben,
wie der zur syrisch-orthodoxen Kirche
konvertierte amerikanische Priester Bar Youhanon
(früher Fr. Dale A. Johnson) in einem
alarmierenden Rundschreiben "Analyse der
Emigration vom Tur Abdin" 1999 berichtet.
Er, der sich von seiner Familie getrennt hat, um
sein weiteres Leben als Mönch im Kloster Mar
Gabriel zu verbringen, prangert den westlichen
Materialismus als wesentliche Ursache für den
Exodus aus dem Tur Abdin an. Die Geschenke, wie z.B.
der Mähdrescher, hätten nur Neid der kurdischen
Nachbarn auf die Christen, neue Schikanen,
Verfolgungen und Entführungen gebracht; schließlich
hätten die Christen entnervt die meisten
Schenkungen verkauft und damit Schleuserbanden
bezahlt, die sie und ihre Familien in das sichere
Europa gebracht hätten. Auch die inzwischen in
ihre neuen Heimatländer integrierten und
vielfach zu Wohlstand gelangten ehemaligen Tur
Abdin-Bewohner sähen lieber, wenn alle
Verwandten die alte Heimat verlassen würden.
Denn immer noch sind sie den Gesandten der
kurdischen Feudalherren ausgesetzt, die von ihnen
auch in Deutschland, Schweden usw. Tribut fordern.
Wenn sie nicht zahlen, werden die im Tur Abdin
zurückgebliebenen Verwandten beraubt, überfallen
oder entführt. So müssen sie sogar von
deutscher Sozialhilfe an kurdische Feudalherren
zahlen. Diesen Aspekt erwähnt der schöne
Bildband nicht, überhaupt sieht man keine
kurdischen Nachbarn, die inzwischen in der
Provinz Mardin auf mehr als eine Mill.
angewachsen sind. Auch den türkischen
Staatsvertretern und Menschenrechtlern ist nicht
damit geholfen, nur von rätselhafter
Auswanderung (eventuell unter Druck) zu sprechen.
Man muss die Zustände beim Namen nennen, wenn
man sie ändern, wenn man ein so großartiges
Zeugnis menschlicher Kultur retten will; nur die
Träger dieser Kultur, die syrischen Christen,
sind dazu imstande. Ihre Klagen müssen den Zuständigen
und Verantwortlichen vorgetragen und für Abhilfe
muss gesorgt werden. Vielleicht kehren dann
einige zurück. Damit kann der Bildband von Hans
Hollerweger helfen und dafür, dass die nächsten
Generationen ihre Wurzeln nicht vollständig
verlieren.
Die Angst der Emigranten vor einer wenn auch
besuchsweisen Rückkehr in ihre Heimat sitzt noch
zu tief, obwohl dort zeitweise Ruhe eingekehrt
ist, wie Erzbischof Julius Isa Cicek auf seiner
ersten Reise nach langer Zeit im Herbst 2000
feststellen konnte: kurz danach wurde der syrisch-orthodoxe
Priester Yusuf Akbulut in Diyarbakir zur Polizei
vorgeladen, weil er in einem Interview mit der türkischen
Zeitung Hürriyet die Ermordung von
Hunderttausenden Armenier und auch syrischer
Christen im I. Weltkrieg bestätigt hatte. Ihm
wurde deshalb Volksverhetzung vorgeworfen. Wegen
internationaler Proteste wurde er schließlich
vom Staatssicherheitsgericht in Diyarbakir
freigesprochen. - Dieser, überall in der Welt
verbreitete Vorfall diente weder dem Ansehen der
Türkei, noch ermutigte er die syrisch-orthodoxen
Christen, in ihre alte Heimat zu reisen. So hat
vor einer schwärmerischen Schilderung der alten
Kulturlandschaft ein Situationsbericht von
gestern und heute zu stehen, damit das Land
wieder in Zukunft zu neuer Blüte kommt.
Dr.
Helga Anschütz
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