Mar Gabriel Verein - Mitteilungsblatt 2002


Die Türkei auf dem Weg nach Europa -
Eine Besserung für die Minderheiten in Sicht?

- Dr. Rainer Hermann -

Dr. Hermann ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Istanbul. Der hier veröffentlichte Text wurde von ihm als Vortrag bei der 10. Tagung der Solidaritätsgruppe Tur Abdin in Würzburg, am 8. Februar 2002 gehalten.

B-shem abo, w abro, w ruho hayo qadisho, hadh aloho shariro. Amen.
"Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, des einen Gottes. Amen."

Sehr geehrte Damen und Herren,
in Europa verstehen heute ungleich mehr diese Sprache, die auch die des Jesus von Nazareth gewesen war, als in der Heimat dieses aramäischen Dialekts. Sie wissen es besser als ich: In den sechziger Jahren hatten in 55 Städten und Dörfern des Tur Abdin noch mehr als 60.000 syrisch-orthodoxe Christen gelebt. Heute sind es gerade 2300. Unbewohnt sind 30 Dörfer und zehn Klöster; nicht mehr benutzt werden hundert Kirchen. In Istanbul leben 12.000 syrisch-orthodoxe Christen, in Deutschland aber 50.000 und in Schweden sogar 70.000. Die meisten von ihnen waren aus der Türkei gekommen. Und in ihrer neuen Heimat haben sie mehr Möglichkeiten, ihre Kultur und ihre Sprache zu bewahren als in ihrer alten Heimat.

Zu tun hat das mit drei Gründen:
(1) Mit Lausanne: Die syrisch-orthodoxen Christen der Türkei können nicht auf die Privilegien zurückgreifen, die der Vertrag von Lausanne aus dem Jahr 1923 Griechen, Armeniern und Juden gewährt.
(2) Mit dem Islam in der Türkei: Alle Christen in der Türkei leiden darunter, dass die Türkei weiter unsicher ist in ihrem Umgang mit den Muslimen, dass die säkulare Türkei mehr Angst hat vor dem Islam als vor den Christen, dass sie sich durch Saudi-Arabien und Iran gefährdet sieht.
(3) Mit einem Geburtsfehler der modernen Türkei: Denn entstanden ist die Republik in einem für die Türkei existentiellen Kampf gegen die Kolonial- und Großmächte. Seither sieht sie sich von Feinden umgeben, die angeblich nichts im Sinn haben sollen, als die Republik zu spalten.
Die Frage, die wir uns stellen, lautet: Kann die Annäherung der Türkei an Europa zu Verbesserungen führen, die diese Faktoren aufwiegen oder zumindest aufweichen? Blicken wir auf die drei Faktoren.

Der erste Faktor: Der Vertrag von Lausanne
Mit dem Vertrag von Lausanne wurde die Türkei als Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs in die internationale Völkergemeinschaft aufgenommen. Unterzeichnet wurde er am 24.7.1923. Artikel 37 bis 45 regeln den Status der nichtmuslimischen Minderheiten in der Türkei. Artikel 40 räumt ihnen das Recht ein, eigene Schulen zu errichten und zu betreiben, Artikel 41 erlaubt in diesen Schulen die Verwendung der eigenen Sprache.
Der Vertrag nennt die Minderheiten nicht, die in den Genuss dieser Rechte kommen. Unter Berufung auf den Vertrag können Griechen, Armenier und Juden von den Rechten Gebrauch machen. Nicht aber die syrisch-orthodoxen Christen. 1923 hatte der damalige syrisch-orthodoxe Patriarch, Ilyas Shakir Alkan, entschieden, es sei besser für die Syriani, als gewöhnliche Bürger der neu gegründeten Türkei nicht aufzufallen und sich nicht als Minderheit zu exponieren.
Die Weisheit dieser Entscheidung mag heute umstritten sein. Der Sitz des Patriarchats, der seit 1293 im Kloster Deir ez-Zafaran gewesen war, wurde nach dem Tod des Patriarchen Ilyas 1933 nach Homs verlegt. Dort hatte sein Nachfolger Ignatius Ephrem zuvor bereits als Bischof amtiert. 1959 kam der Sitz nach Damaskus. Patriarch Ilyas selbst starb während einer Reise nach Indien, wo in der Region Kerala 2,5 Millionen syrisch-orthodoxe Inder leben. Überwiegend stammen sie von den vierhundert Familien ab, die um 300 n. Chr. aus Urfa ausgewandert waren. Noch immer pflegen sie ihre damalige Liturgie.
Zurück zur Entscheidung des Patriarchen Ilyas. Anders als die Griechen, Armenier und Juden vertrat er eine Glaubensgemeinschaft, die auf dem Lande lebte, im Tur Abdin, und die so gut wie keinen Bezug nach Istanbul hatte. Im Tur Abdin haben einige Regeln die Zeit überdauert. Eine war die Gefährdung durch die kurdischen Großgrundbesitzer, die nach den Ländereien der Christen schielten. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs versetzten zudem die kurdischen Sondereinheiten der Hamidiye Alayi auch den Tur Abdin in Schrecken. Patriarch Ilyas war daher der Überzeugung, es sei nicht opportun, sich in dieser Region als Minderheit weiter zu exponieren.
Eine Rolle, weshalb die syrisch-orthodoxen Christen nicht in den Kreis der offiziellen Minderheiten aufgenommen worden sind, mag auch gespielt haben, dass in Lausanne die europäischen Mächte die syrisch-orthodoxe Kirche nicht beachtet hatten. Sie kannten sie ja nicht aus Istanbul. Noch 1923 konnte die syrisch-orthodoxe Kirche keine Rückendeckung aus Istanbul erwarten. Erst mit einer kleinen Gemeinde hatte sie dort Fuß gefasst. Seit 1864 besitzt sie ihr einziges Gotteshaus in Istanbul: eine Schenkung der Armenier im Stadtteil Tarlabasi. Die syrisch-orthodoxen Christen waren damals im Osmanischen Reich noch kein Millet, gegenüber dem Sultan vertrat sie der armenische Patriarch, der im Namen aller "Monophysiten" sprach. Erst unter dem syrisch-orthodoxen Patriarchen Peter IV. (1872 bis 1894) wurde die Kirche als eigenes Millet anerkannt.
Als amerikanische Missionare im 19. Jahrhundert den Tur Abdin durchkämmten, lösten sie eine erste Auswanderungswelle aus. Sie führte nach Nordamerika, nicht nach Istanbul. Und wer blieb, sah sein Umfeld durch die Gründung der Republik Türkei verändert: Das Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen wurde zerschnitten, auch das Band in die nächstgroße Stadt Aleppo. Und Aufstände der Kurden schafften weitere Unruhe.
Was unter den damaligen Bedingungen plausibel erschien, entpuppte sich später als Nachteil: Die syrisch-orthodoxen Christen dürfen seit Lausanne keine eigenen Schulen gründen, in denen sie ihre Sprache und die Sprache von Jesu an die junge Generation weitergeben können. Sie sind auf die staatlichen türkischen Schulen angewiesen. Ohne Sprache aber stirbt eine Kultur. Was in Lausanne verpasst wurde, soll die EU jetzt richten.

Der zweite Faktor: Die Angst der Türkei vor dem Islam
Atatürk, der Begründer der modernen Türkei, hatte einen unerbittlichen Kampf gegen den Islam geführt. Er machte ihn für den Niedergang des Osmanischen Reichs verantwortlich und sprach ihm ab, mit der modernen Zivilisation vereinbar zu sein. Alle Religion verbannte er aus dem öffentlichen Leben, Religionsgemeinschaften konnten sich nur noch als Stiftungen organisieren. 1925 verbot Atatürk die einst mächtigen muslimischen Orden. Um sie zu liquidieren, erließ er 1935 das Stiftungsgesetz. Die Stiftungen - die muslimischen, aber auch die nichtmuslimischen - durften nur noch vorhandenes Eigentum verwalten. Dazu mussten sie 1936 den Behörden Listen mit ihren Vermögenswerten vorlegen.
Grundsätzlich gilt: Christen können in der Türkei, anderslautenden Vorurteilen zum Trotz, ihren Glauben frei praktizieren. Dennoch unterliegen sie Einschränkungen und sind sie Sticheleien ausgesetzt. Einige Beispiele:
1. Atatürk hatte angeordnet, dass in der Türkei keine Sakralbauten mehr errichtet werden dürften. Die Muslime haben dieses Verbot erfolgreich unterlaufen, gegenüber Christen wird es weiter angewandt. Zeichen einer konzilianteren Gangart der Behörden sind jedoch zu erkennen. Noch immer besitzt die syrisch-orthodoxe Gemeinde in Istanbul, wie im 19. Jahrhundert, nur eine eigene Kirche. Daneben benutzt sie in Istanbul sieben Gotteshäuser anderer Glaubensgemeinschaften mit sowie in Ankara ein katholische Kirche. Die Benutzung von Wohnungen für Gottesdienste ist nach dem Wohnungsbaugesetz Nummer 3914 aber verboten.
2. Sticheleien im Alltag durch Nationalisten und Ignoranten nehmen zwar ab. Steuerinspektionen finden dennoch weiter bevorzugt an Weihnachten statt. Immer weniger Christen tragen wirklich christliche Namen wie Hanna, Amsih, Mesih. Lieber nicht auffallen, lautet die Devise. Vor allem als Rekrut beim Militär.
3. Von der Verkrampftheit im Umgang der Türken mit ihren Minderheiten passt die Geschichte des Armeniers Agop Martayan, dem Atatürk den Ehrennamen Dilacar ("Öffner der Sprache") verliehen hat und der an der Spitze der türkischen Kommission zur Sprachreform gestanden hatte. Als er in den siebziger Jahren starb, berichtete das Staatsfernsehen lediglich vom "Tod des A. Dilacar".
Die größten Einschränkungen für die nichtmuslimischen Minderheiten bringen jedoch das Stiftungsgesetz von 1935 und die Vermögenslisten, die sie 1936 vorgelegen mussten. Die Behörden hatten bis Anfang der siebziger Jahre geduldet, dass alle Stiftungen neue Immobilien erwarben und Schenkungen annahmen. Seither hat in der türkischen Justiz und in der Generaldirektion für Stiftungen eine Bewegung eingesetzt, jedweden Stiftungsbesitz zu konfiszieren, der nicht auf den Listen von 1936 vermerkt war. Betroffen waren davon auch Immobilien, die deswegen nicht auf die Listen hatten aufgenommen werden können, weil die Schenkungsurkunden der Sultane nicht mehr vorhanden waren.

Der dritte Faktor: Geburtsfehler der Republik Türkei
Von 1878 bis 1918 hatte das Osmanische Reich 75 Prozent seines Territoriums verloren und 85 Prozent seiner Bevölkerung. Die Republik Türkei nahm Abschied von der Kulturnation des osmanischen Vielvölkerreichs, sie definierte sich jetzt als politisch determinierte Willensnation. Um diese Willensnation zu schaffen, wurden Prinzipien benötigt, die zu Tabus wurden. Zusammengefasst sind sie in den Prinzipien Atatürks. So zu ihnen gehören:
- Halkcilik (Populismus): Die Gesellschaft ist homogen, Klassen werden also negiert;
- Milliyetcilik (Nationalismus): Jeder Staatsbürger ist Türke, eine ethnisch-kulturelle Vielfalt wird negiert;
- Laiklik (Laizismus): Islam und islamische Kultur sind Feinde der Türkei, negiert wird jede Religion;
- Devletcilik (Etatismus): Die führende Rolle des Staats, konkreter des Militärs, auch der Bürokratie, negiert wird die Bürgergesellschaft.
Die Geschichte der Türkei ist eine Geschichte des Aufbegehrens der Ausgeschlossenen gegen diese Tabus. Damals aber wollte die Türkei als Willensnation stark sein, kein neues Sèvres sollte mehr entstehen. Denn in jenem Vertrag von 1920, der in Lausanne aufgehoben wurde, hatten die Alliierten die Türkei weitgehend unter sich aufgeteilt. Noch immer sitzt in den Köpfen der meisten Türken der "Sèvres-Komplex" fest: Die Furcht, dass es das Ausland nur darauf anlege, die Türkei zu spalten.
Der Sèvres-Komplex stand auch Pate, als die Türkei Anfang der siebziger Jahre begann, christlichen Stiftungsbesitz zu konfiszieren. Auslöser waren die zunehmenden türkisch-griechischen Spannungen um Zypern. Opfer dieser seither nicht korrigierten Politik sind bisher 170 nichtmuslimische Stiftungen geworden. Was einmal konfisziert ist, ist unwiederbringbar verloren.

Die syrisch-orthodoxe Kirche ist dabei - für einmal - weniger betroffen als die "Lausanner Minderheiten". In Istanbul selbst besitzt sie über die Stiftung ihrer Bischofskirche Meryemana Kilisesi lediglich zwei Grundstücke: auf einem steht die Kirche, die 1849 errichtet worden ist; das zweite ist das Nachbargrundstück. Alle anderen Immobilien sind, auch wenn sie der Gemeinde gehören, auf private Namen eingetragen. Immobilien, die in Erbschaften der Kirche vermacht worden sind, wurden mindestens seit den sechziger Jahren - in weiser Voraussicht - nicht mehr auf den Namen von Kirchenstiftungen vermacht. Stärker betroffen ist der Stiftungsbesitz der Kirche im Tur Abdin. Dort hat jede Kirche Stiftungsbesitz.
Im vergangenen Jahr gingen sowohl vom armenischen Patriarchat wie von der syrisch-orthodoxen Gemeinde Initiativen zur Novellierung des Gesetzes zu den Stiftungen aus. Einige syrisch-orthodoxe Gemeindemitglieder erarbeiteten einen Gesetzentwurf und schickten ihn an zwanzig Abgeordnete in Ankara. Ziel sollte sein, das Gesetz von 1935 aufzuheben und den Erwerb von Eigentum durch die nichtmuslimischen Stiftungen neu zu regeln. Es solle die Möglichkeit geschaffen werden, dass die alten Stiftungen in neue überführt werden und diese Eigentum annehmen dürfen, schlägt ihr Entwurf vor. Dabei argumentierten die Gemeindevertreter, dass das bestehende Stiftungsgesetz im Rahmen der EU-Harmonisierung novelliert werden müsse. Auf Vorschläge des armenischen Patriarchats hat das Parlament einen ersten eigenen Gesetzentwurf nachgebessert.
Zu dem Thema findet auch in den türkischen Medien eine Diskussion statt. Viele sprechen sich für Verbesserungen für die Stiftungen aus. Aber nicht alle. Der stellvertretende Vorsitzende der konservativen Partei des Rechten Wegs (DYP), Hasan Ekinci, wandte ein, die christlichen Minderheiten seien eine Bedrohung für die nationale Sicherheit. Sie sollten daher nicht dieselben Rechte genießen wie die muslimischen Türken: Nur ein Beispiel für das Weiterleben des Sèvres-Komplexes.
Will die Türkei aber nach Europa, muss ihren nichtmuslimischen Bürgern dieselben Rechte einräumen wie ihren muslimischen. Die Europäische Kommission hatte ihren letzten "Fortschrittsbericht" zur Türkei am 13. November vorgestellt. Dort heißt es im Kapitel "Bürgerliche und Politische Rechte", dass die christlichen Kirchen weiter mit Schwierigkeiten konfrontiert seien, besonders in der Frage des Eigentums von Vermögen. Die Türkei hatte in ihrem Nationalen Programm vom vergangenen März, in dem sie ihre Annäherung an die EU skizzierte, auf Aussagen zu den Rechten der Minderheiten verzichtet. Diese Auslassung geht mutmaßlich auf eine Intervention des stellvertretenden Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahceli, zurück. Er hatte argumentiert, dass die Türkei mit der Aufnahme eines entsprechenden Kapitels eingestehen würde, in der Vergangenheit Fehler begangen zu haben.

Einige Tendenzen zum Besseren sind auszumachen
Tendenzen zum besseren sind dennoch auszumachen. Die Behörden des Staats sind um eine Öffnung bemüht. Einige Beispiele:
(1) Das Diyanet Isleri Bakanligi, die staatliche Religionsbehörde, gibt sich unter ihrem Vorsitzenden Mehmet Nuri Yilmaz offener - eine Tendenz, die der 11. September verstärkt hat. Das Diyanet spricht von Dialog, lädt andere Religionen zum Gespräch ein. Vor zwei Jahren hatte Mehmet Nuri Yilmaz sogar erstmals den Tur Abdin besucht.
(2) Das Erziehungsministerium hat eine Kommission eingesetzt. Sie besteht aus 40 Mitgliedern dreier Religionen und soll ein Unterrichtsbuch für das Fach "Religion und Ethik" (Din ve Ahlak Dersi) erarbeiten. Es soll die drei Religionen vorstellen und zu Toleranz aufrufen. Bisher ist im Religionsunterricht lediglich der Islam vorgestellt worden.
(3) Das Tourismusministerium befürwortet die Renovierung von Kirchen und will den Religionstourismus fördern, der ohne Kirchen ja nicht auskommt. Eine "Gefahr der Mission" sieht das Ministerium nicht.
(4) Nach vier Jahren Arbeit hatte die syrisch-katholische Kirche, noch in den neunziger Jahren, die Genehmigung erhalten, eine eigene Stiftung nach dem Zivilgesetzbuch zu gründen. Stiftungszweck soll die Ausbildung von Geistlichen sein. Die Kirche hat sich damit gegenüber der Generaldirektion für Stiftungen durchgesetzt. Die hatte argumentiert, es sei grundsätzlich nicht möglich, eine neue Stiftung mit einem religiösen Zweck zu gründen. Nur nützt der syrisch-katholischen Kirche ihr Sieg nicht mehr viel. Denn die Kirche besteht nur noch aus 150 Familien. Sie haben jetzt das Recht auf eine Stiftung. Die lohnt sich aber nicht mehr.
(5) Ermutigend ist, wie sich Staatspräsident Sezer in der Frage der Kirche von Moda für die syrisch-orthodoxe Gemeinde einsetzt. Sezer hat auch Ministerpräsident Ecevit und den Istanbuler Gouverneur Cakir gebeten, der Gemeinde zu helfen. Sezer demonstrierte damit abermals, dass er ein Garant für Rechtstaatlichkeit ist und einer der wenigen wirklich überzeugenden Reformpolitiker der Türkei.
Was war vorgefallen? Im Osmanischen Reich hatte es keinen privaten Grundbesitz gegeben. Aller Grund hatte dem Sultan gehört. Mit einem Ferman, einem Befehlsschreiben des Sultans, hatte dieser der französisch-katholischen Gemeinde um 1840 das Grundstück übertragen, um darauf eine Kirche zu bauen. Erst von 1923 an wurden die Eigentümer in die neuen Grundbücher eingetragen. Ausländische Kirchengemeinden konnten jedoch keinen Grundbesitz haben, weil sie ja keinen Rechtsstatus hatten, also gar nicht existierten. Also erhielt die Parzelle keinen Grundbucheintrag.
In den vergangenen Jahrzehnten hatte das Katasteramt wiederholt Anläufe unternommen, um das 4000 Quadratmeter große Grundstück dem Staat zu überschreiben. Der französische Staat wehrte sich nicht. Denn er versteht sich als laizistischer Staat. Vor einem Jahr hat das Schatzamt die Immobilie schließlich übernommen; es erkannte aber den langfristigen Mietvertrag an, den die Franzosen mit der syrisch-orthodoxen Kirche geschlossen hatte. Ein französischer Rechtsanwalt wollte den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen. Die syrisch-orthodoxe Gemeinde plädierte jedoch für eine Lösung in der Türkei. Das war wohl richtig.
Über den Generalsekretär des Präsidialamts, Kemal Nehrozoglu, einen Bürger aus Midyat, erhielt die Gemeinde innerhalb von zwei Wochen einen Termin bei Präsident Sezer. Dort trugen sie ihm vor, wie wichtig die Kirche für sie sei, die sie seit 1975 mitbenutzten. Bereits drei Wochen später, am 6.6.2001, besuchte Sezer als zweiter Staatspräsident der Türkei den Tur Abdin. Im Deir az-Zafaran informierte er sich über die Lage und Probleme der syrisch-orthodoxen Christen. In das Gästebuch des Klosters schrieb er: "Der Beitrag der aufopferungsvollen, begabten und staatstreuen Mitglieder der syrischen Gemeinde für die Entwicklung und Wohlfahrt der Republik Türkei ist groß. In diesen Tagen, in denen die Probleme unser südostanatolischen Region zu Ende gehen und ein neues wirtschaftliches Programm gestartet wird, wird dieser Beitrag noch wichtiger."
Das Grundstück in Moda kann das Schatzamt nicht zurückgeben. Von Sezer hat die Gemeinde bisher aber die mündliche Zusicherung, dass sie die Kirche in Moda langfristig benutzen könne, ohne Miete zahlen zu müssen. Die einzige Bedingung ist, dass sie die Mitbenutzung durch die französische Kirchengemeinde nicht aufkündigt. Ein Schriftstück hat die Gemeinde dazu noch nicht in der Hand. Aber immerhin die mündliche Zusage des Staatspräsidenten.

Ungelöst ist nach wie vor: Besserung Schule und Priesterausbildung
Die Blicke der Reformer und der Minderheiten richten sich auf Sezer. Denn noch immer blockieren Altvordere in Politik und Bürokratie Änderungen zum Besseren. Noch immer gibt es beispielsweise staatliche Schulen, selbst in Istanbul, deren Schulleiter und Lehrer die nichtmuslimischen Schüler zwingen, am muslimischen Religionsunterricht teilzunehmen, selbst wenn sie ihnen keine Noten geben wollen. Im Fall des Sohnes eines syrisch-orthodoxen Freundes hat der Religionslehrer dabei das Christentum wiederholt sehr scharf angegriffen. Erst nach dem Militärputsch von 1980 war Religion als Pflichtfach eingeführt worden. Das Erziehungsministerium hat am 23. Juli 1990 aber festgelegt: "Türkische Staatsangehörige, die nicht eine Minderheitenschule besuchen, können nicht zur Teilnahme am Religions- und Ethikunterricht gezwungen werden, wenn sie beweisen, dass sie einer Minderheit angehören."
Dieser Erlass ist für die syrisch-orthodoxen Christen von Bedeutung, weil sie ihre Kinder auf staatliche Schulen schicken müssen. Ihre Gemeinde hatte vor dem Ersten Weltkrieg in Mardin eine eigene Schule. 1921 musste sie aus finanziellen Gründen geschlossen werden. Danach wurden die Kinder in den Klöstern Mor Gabriel und Deir az-Zafaran erzogen. Als Minderheit, die nicht unter dem Schutz von Lausanne steht, kann die Kirche heute keine eigene Schule einklagen. Gründungen privater Schulen sind aber selbst für Muslime nicht leicht. Der Großindustrielle Sakip Sabanci hatte sieben Jahre gebraucht, um eine Universität zu gründen.
Daneben kommen die besonderen Bedingungen der Bürgerkriegsregion im Südosten der Türkei. 1997 hatte der damalige Gouverneur der Provinz Mardin, Fikret Güven, gegen Mor Gabriel und Deir az-Zafaran ein zweifaches Verbot verhängt. Zum einen sollten sie die Renovierungsarbeiten für die 1600-Jahr-Feier einstellen. Denn die Baumaßnahmen seien nicht genehmigt gewesen, sagte er. Das war auch zutreffend. Die Genehmigungsverfahren bei denkmalgeschützten Bauten sind in der Türkei jedoch äußerst langwierig. Zum anderen untersagte der Gouverneur den Klöstern, Personen zu beherbergen, die nicht zu den Klostergemeinschaften gehörten. Das Kloster dürfe kein Internat mehr sein und es müsse wie ein Hotel behandelt werden, das seine Gäste der Polizei zu melden habe, forderte der Gouverneur. Diese Maßnahme sei im Kampf gegen die Freischärler der PKK erforderlich, meinte er weiter. Heute übernachten wieder Schüler und ökumenische Gäste im Kloster.
Eine private Schule haben die syrisch-orthodoxen Christen aber weiter nicht. Viele Hürden stehen im Weg. Zunächst bereitet das 1971 geschlossene griechisch-orthodoxe Priesterseminar Halki dem Staat Kopfschmerzen. Eine syrisch-orthodoxe Schule könnte auch für die Wiedereröffnung von Halki Präzedenzwirkung haben. Zudem: Wer soll Schulträger sein? Wer bezahlt die Lehrer? Ist es nicht zu spät, eine eigene Schule zu gründen? Erforderlich wäre sie vor einem halben Jahrhundert gewesen. Heute ist die Gemeinde klein, vermutlich zu klein für eine eigene Schule. Nicht alle könnten sich die hohen Schulgebühren leisten. Zu verstreut leben die Schüler über Istanbul, als dass ein zentraler Standort gefunden werden könnte. Der beste Weg ist also nach wie vor, die sprachliche und religiöse Grunderziehung über die Klöster zu gewährleisten.
Nach dem Schulabschluss stellt sich die Frage: Und wo Theologie studieren? Die Türkei verbietet weiter die Tätigkeit ausländischer Geistlicher. Auch das hat mit der Angst der Türkei vor dem Islam und mit dem verkrampften Verhältnis zur Religion zu tun. Die zwei deutschen Pfarrer in Istanbul firmieren daher als Angestellte des Generalkonsulats. Doch der syrisch-orthodoxen Kirche fehlen Hochschulabsolventen. Wer die Laufbahn eines Geistlichen einschlagen will, dem bleibt nur die Alternative: Ausbildung in einem der Klöster oder ein Aufenthalt von zwei bis drei Jahren im Patriarchat von Damaskus. Eine Hochschulausbildung erhält er auch dort nicht. Der Patriarch schickt Begabte aber ins Ausland, gegenwärtig nach Rom an die Hochschule des Vatikan und nach Oxford.
In der Türkei ist die Lage weiter unbefriedigend, und eine Besserung ist nicht in Sicht. Der Dekan der Theologischen Fakultät der Istanbuler Marmara-Universität, Zekeriya Beyaz, hat jüngst vorgeschlagen, christliche Theologen in den bestehenden muslimischen Theologischen Fakultäten ausbilden zu lassen. Dekane dieser Fakultäten sind Muslime. Seinen Vorschlag begründet er mit der Furcht vor der christlichen Mission. Viele Türken teilen sie unverändert mit ihm. Alle Minderheiten haben den Vorschlag von Beyaz entschieden abgelehnt.

Wird es eine Rückkehr in den Tur Abdin geben?
Die Abwanderung ist gestoppt. Wer bisher nicht weggezogen ist, will bleiben. Eine Rückkehr von Ausgewanderten gilt in der syrisch-orthodoxen Gemeinde Istanbuls nicht als eine realistische Perspektive. Nach Auskunft der Gemeinde liegt keine konkrete Anfrage für die Rückkehr in ein Dorf des Tur Abdin vor; auch sei ein konkreter Wunsch nicht vernommen worden. Ohnehin kaum realistisch ist eine Rückkehr in die Dörfer, die im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die PKK geräumt worden sind. Noch im Mai 2001 konnte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands, Präses Kock, einige Dörfer nicht besuchen, die nicht weit von Mor Gabriel entfernt liegen. Begründet wurde das Verbot damit, dass in jener Region der türkische Staat die Sicherheit der Gäste nicht gewährleisten könne.
Eine Rückkehr setzt eine zweifache Sicherheit voraus: Der Kurdenkonflikt muss gelöst sein und vom Irak darf keine Bedrohung für die Stabilität der Region ausgehen. Mit einer gewissen Nervosität blickt die Regierung in Ankara auch auf das Verhältnis von Syrern und Assyrern. Zu Syrern und Aramäern, die sich als religiöse Gemeinschaft definieren und als Nachkommen des Apostpolischen Sitzes in Antiochien, hat sie ein unbefangenes Verhältnis. Das trifft nicht für Assyrer zu, die sich eher als Volk fühlen, als Nachkommen der Assyrer, die in Mesopotamien geherrscht hatten, bevor die Araber und später die Türken in die Region eindrangen. Bei den Assyrern vermutet die Türkei ein politisches Anliegen. Ihr Bezugspunkt ist Mesopotamien. Sie sprechen von der Unterdrückung in ihrer Heimat und von einem Kampf für die Freiheit. Teilweise hängen sie sich an die Kurden. Die türkische Regierung, die die Terrororganisationen PKK und Asala überstanden hat, ist nicht gerade scharf darauf, mit den Assyrern eine neue Flanke zu eröffnen.
Andererseits dürfte es nach Aussage von Gemeindemitgliedern in Istanbul für Rückkehrwillige auch nicht leicht sein, ihr Eigentum zurückzuerhalten. Viele haben es verkauft, andere haben es in der Erwartung einer endgültigen Ausreise ihrem muslimischen Nachbarn zur Verwahrung oder Benutzung gegeben. Sie sagten: "Ich gehe nach Deutschland, kann es nicht verkaufen, nimm es." Grundbücher sind durchaus vorhanden. Letztlich werden die Gerichte in Einzelfällen klären müssen, wer Eigentum geltend machen kann. Dabei wird das Gericht wird prüfen, ob ein Verkauf stattgefunden hat, und wer über die Jahre Steuern auf das Land und das Haus bezahlt hat. Andererseits sei es ein positives Zeichen, dass der Staat versprochen habe, Eigentum zurückzugeben, sagt ein Istanbuler Gemeindemitglied.
Eine Massenrückkehr aus Europa in den Tur Abdin schließe ich aus. Bei den einen stehen dem wirtschaftlichen Gründe entgegen, bei anderen die Beschwerlichkeit des Lebens. Wieder andere haben Angst, wie in der Vergangenheit, oder sie haben kein Vertrauen in die Zukunft der Türkei. Zurückkehren könnten indes ältere Menschen, für die das Leben im Westen zu schwierig und zu schnelllebig geworden ist, die vom alten Leben träumen. Die Jugend aber kann man nicht zurückbringen, und in den Dörfern leben nur noch die Alten.

Fazit
Einer der ersten, der sich für einen EU-Beitritt der Türkei ausgesprochen hatte, war der ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Bartholomäus I. Seit seiner Wahl zum Oberhaupt der orthodoxen Weltkirche verficht er die These, dass die Christen in der Türkei und auch sein historisches Patriarchat nur dann Überlebenschancen haben, wenn sich die Türkei an europäischen Normen ausrichtet.
Eine Umwandlung in eine demokratischere Türkei hat eingesetzt. Heute gibt es weniger Sticheleien gegen Christen. Das hat damit zu tun, dass es weniger Christen gibt, aber auch damit, dass die junge muslimische Generation toleranter ist als ihre Väter. Verändert hat sich auch die Blickrichtung. Früher hatte die Konfliktlinie geheißen: Muslim versus Giavur, also Ungläubiger. Heute heißt sie: säkular versus fundamentalistisch.
Auch wenn die Türkei europäisch wird und sich europäisch verhält - meine Prognose lautet: Selbst der Restbestand von knapp anderthalb Promille Christen an der Bevölkerung wird weiter schwinden. Denn die christlichen Jugendlichen heiraten immer mehr muslimische Partner. Wenn Christen nicht Christen heiraten, hat das auch damit zu tun, dass Eltern Heiraten über die Klassengrenzen hinaus oft nicht zustimmen. Reich heiratet eben nicht arm. Daneben erhalten die Jugendlichen immer mehr Anregungen von der Außenwelt und werden die Reize der Großstadt Istanbul wichtiger als die Möglichkeiten des Gemeindelebens.
Es wird immer schwieriger, die Gemeinde zu erhalten. Das Spiel ist aus, das Ziel der jahrzehntelangen Diskriminierung erreicht. In der Stadt, die einst den Namen Konstantins getragen hatte, gibt es kaum mehr einen Kostas. Noch vor einem Jahrhundert war auf dem Boden der heutigen Türkei jeder vierte Einwohner kein Muslim gewesen. Das bunte Mosaik früherer Reiche ist einem fugenlosen türkisch-muslimi schen Wand- und Bodenbelag gewichen.

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