Mar Gabriel Verein -
Mitteilungsblatt 2001
DIE AUSWANDERUNG
VON CHRISTLICHEN JUNGAKADEMIKERN AUS DEM LIBANON
UND IHRE FOLGEN
DR. BOULOS HARB
Die Auswanderung hat eine uralte Tradition im
Libanon. Ihre Wurzeln gehen bis auf die Phönizier
zurück, die ihre Niederlassungen im ganzen
Mittelmeerraum errichteten. Die moderne
Auswanderung der libanesischen Bevölkerung
begann unter der osmanischen Herrschaft am Ende
des 19. Jhs. Es gab bis heute mehrere Phasen:
Die ersten libanesischen Auswanderer gingen nach
Lateinamerika, vor allem nach Brasilien,
Argentinien, Kolumbien, Venezuela und Kuba.
Allein in Brasilien leben heute 3 Millionen
Menschen libanesischen Ursprungs, die Hälfte
davon in Brasilia. 90% dieser Auswanderer sind
Christen, die inzwischen eine gute Position in
der brasilianischen Gesellschaft erreicht haben.
Eine Statistik von 1995 zeigt, daß außer dem
Parlamentspräsident, Michael Tamer, die
Libanesen 8 Senatoren und 35 Abgeordnete in
Brasilia stellen.
Eine zweite Auswanderungswelle der Libanesen fand
zwischen den beiden Weltkriegen, hauptsächlich
nach Westafrika, statt. Die Mehrzahl von ihnen
sind Schiiten und Maroniten.
Die dritte Welle rollte zwischen 1965 und 1970
nach Australien, Kanada und in die USA, als diese
Länder ihre Tore für Auswanderer wieder öffneten,
90% von ihnen sind Christen, vor allem Maroniten,
Rum-Orthodoxe und Anhänger der syrisch-orthodoxen
Kirche. In Australien leben heute über 300.000
Maroniten und gleich viele in Kanada.
Die letzte Auswanderungswelle, die dramatische Züge
für die Zukunft des Zedernlandes zeigt, begann
1975 mit dem Ausbruch des Bürgerkriegs. Sie
dauert bis heute an und betrifft inzwischen alle
Schichten und Religionsgruppen.
Der Bürgerkrieg zerstörte 31% der Wohngebiete
der Libanesen und vertrieb eine Million aus ihren
Stammgebieten. Ein Teil von ihnen blieb im Land,
während etwa die Hälfte ins Ausland auswanderte.
Durch ihren Krieg von 1982 gegen den Libanon und
ihre Besetzung von Beirut zerstörten die
Israelis eine halbe Million Wohnungen, töteten
73.000 Libanesen und Palästinenser und
verursachten Schäden von 2 Mrd. Dollar. Damals
mußten etwa 300.000 Einwohner von Beirut und
Umgebung ihre Wohnungen verlassen. Die Hälfte
von ihnen wanderte in die USA, nach Kanada und
Australien aus.
In der sogenannten "Sicherheitszone" im
Südlibanon zwang die israelische Armee seit 1972
61,7% der libanesischen Bevölkerung aus 152 Dörfern,
ihre Häuser zu verlassen. Ein großer Teil
dieser Flüchtlinge wanderte aus. Ein beachtliche
Zahl von ihnen, etwa 50.000 entwurzelte Menschen
landeten als Asylsuchende allein in Deutschland.
In dieser besetzten Zone lebten etwa 400.000
Libanesen (120.000 Christen, 45.000 Drusen, 85.000
Sunniten und 150.000 Schiiten). 82% von ihnen
sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Die
israelische Armee zerstörte 4.500 Häuser, 50
Schulen und 3 Krankenhäuser. Sie tötete 16.500
Libanesen; ihre ständigen Angriffe auf den Südlibanon
und die Bekaaebene hinterließen eine große Zahl
von schwerbehinderten Menschen. Das libanesische
Sozialministerium mußte neuerdings 18.000
Behindertenausweise an die Opfer im Südlibanon
verteilen.
Die ständigen Unruhen im Libanon, das Ausmaß
der Zerstörung durch die verschiedenen Kriege
und die hohen Kosten des Wiederaufbaus
verursachten eine tiefe Wirtschaftskrise im Land.
Eine neue Welle von Auswanderung begann besonders
in den letzten zwei Jahren. Während die
Auswanderer bis 1950 eher den ärmeren Schichten
angehörten, wandert jetzt aus, wer ein
Startkapital für eine neue Existenz und eine
Berufsausbildung hat; vor allem wandern
Jungakademiker aus.
Im Libanon, mit etwa 4 Mio. Einwohnern, gibt es
heute 8 Universitäten. Neben der alten "American
University of Beirut (AUB)", der Universität
St. Joseph der Jesuiten von 1874 und der
staatlichen libanesischen Universität von 1952,
wurden neuerdings fünf andere einheimische
private Hochschulen gegründet. Das sind: Die
Heiliger-Geist-Universität von Kaslik (USEK),
die Marien-Universität von Loueizé, die
Antoniner-Universität von Dekwané, die "La
Sagesse-Universität" in Beirut und die
Balamand-Universität bei Tripoli im Nor-den.
Alle diese Hochschulen gehören den einheimischen
Kirchen oder religiösen Orden an und bilden z. Z.
etwa 13.000 Studenten aus; 90% von ihnen sind
Christen. Diejenigen, die ihr Studium beenden,
finden im Libanon aber kaum Arbeit. Tausende von
ihnen wandern aus. Allein 1999 verließen 272.000
Libanesen ihr Land für immer. Die Ursachen für
diesen Aderlaß sind Wirtschaftskrise, mangelndes
Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit und die Folgen
der israelischen Besatzung im Süden.
Eine Statistik der Sicherheitsbehörde in Beirut
zeigt, daß 895.000 Libanesen während des Bürgerkriegs
zwischen 1975 und 1991 auswanderten. Zwischen
1992 - 1994 verringerte sich diese Zahl, um
danach wieder steil anzusteigen. So zeigt die
gleiche Statistik, daß 891.000 Libanesen ihr
Land zwischen 1995 und 1999 verlassen haben, die
Mehrzahl von ihnen wahrscheinlich für immer. Das
bedeutet, daß der Libanon innerhalb der letzten
25 Jahre ein Drittel seiner Einwohner verloren
hat.
Eine andere Statistik aus dem Ministerium für
Soziales zeigt, daß 85% der Auswanderer männlich
sind, 62% von ihnen junge Leute, die eine Arbeit
im Ausland suchen. Eine Volksbefragung (MDMA) von
1997 ergab, daß 62% der Libanesen zwischen 15
und 29 Jahren auswandern möchten. Besonders
nachteilig für die Zukunft des Libanon ist der
Verlust seiner Hochschulabsolventen. Sie
verlassen ihre Heimat in den letzten Jahren in
großer Zahl. Die Statistiken der letzten Jahre
besagen, daß 32% der Hochschulabsolventen
auswanderten; dazu kommen 5% der jungen Leute,
die einen qualifizierten Beruf erlernt haben.
Dieser Aderlaß der libanesischen Bildungsschicht
beginnt im Zedernland verheerende Folgen für die
wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung zu
zeigen. Dadurch droht dem Libanon der Verlust
seines bisherigen Kapitals innerhalb der
arabischen Länder, nämlich seiner
qualifizierten Arbeitskräfte und seiner
kreativen Menschen.
Die Ausbildungskosten für einen Studenten
belaufen sich an den privaten Hochschulen im
Libanon auf insgesamt etwa 80.000 Dollar.
Innerhalb der letzten 25 Jahre hat der Libanon 19
Mrd. Dollar für die Ausbildung seiner Studenten
ausgegeben. Anstatt ihr Land zu entwickeln,
wandern sie aber aus, um anderen Ländern zu
dienen. Ein Beiruter Statistikinstitut unter der
Leitung von Dr. Anis Abi Farah stellte fest, daß
der Libanon zwischen 1875 - 1996 vierzig Mrd.
Dollar für seine Auswanderer bezahlt hat. Das
sind 300% seines damaligen Bruttosozialprodukts.
Mit diesem verlorenen ist das Zedernland für
Jahrzehnte zurückge-worfen.
Während eines Besuchs der Universität von
Kaslik (USEK) sagte mir Pater Louis Ferch, Dekan
der Fakultät für Betriebswirtschaft: "Wir
bilden unsere jungen Leute für das Ausland aus.
Das Schmerzhafte dabei ist, daß wir es auch
bezahlen müssen." Sollte diese Tendenz
andauern, verlieren die Christen im Libanon einen
großen Teil ihrer jungen Elite.
Da die Lage im Nahen Osten auch anderswo nicht
besser ist, stellt sich die Frage nach der
Zukunft des Christentums in dieser Region. Bis
jetzt verließen seit 1991 mehr als 100.000
Christen wegen des 2. Golfkriegs und des darauf
folgenden Embargos den Irak. Seit der
israelischen Besatzung von Ostjerusalem 1967
wanderten allein aus der Heiligen Stadt 67.000
Christen aus. Der Tur Abdin ist von Christen fast
entleert worden und dem Bericht von Shabo Talay
zufolge (TALAY, Shabo: Bericht über die Lage der
Apostolischen Kirche des Ostens in Syrien. In:
Martin TAMCKE und Andreas HEINZ (Hrsg.): Zu
Geschichte, Theologie, Liturgie und
Gegenwartslage der Syrischen Kirchen. Studien zur
orientalischen Kirchengeschichte 9. Hamburg 2000.
S. 460-461.) wandern immer mehr Assyrer aus der
Khaburregion in Syrien aus. 5.000 Christen mußten
den Südlibanon verlassen, nachdem die
israelische Armee plötzlich die sogenannte
"Sicherheitszone" räumen mußte, etc.
...
Ist es möglich, diese Auswanderungsbewegung im
Nahen Osten noch anzuhalten und die Lage der dort
noch lebenden Christen zu stabilisieren?
Zur Zeit gibt dafür nur wenig Chancen.
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