Mar Gabriel Verein -
Mitteilungsblatt 2001
Syrische
Orthodoxe Gemeinde -
der Tradition treu bleiben und dennoch offen sein
Amill Gorgis - Berlin
(Dieser Beitrag
wurde zum ersten Mal in dem Buch "Spuren in
der Vergangenheit Begegnungen in der Gegenwart"
veröffentlicht; Wichern-Verlag Gmbh Berlin,1999)
Die
Liturgiesprache der syrisch-orthodoxen Kirche von
Antiochien ist das Syrische (Aramäische). In
dieser Sprache ist ein Teil der heiligen Bücher,
zum Beispiel die Prophezeiung Daniels und das
Evangelium des Matthäus geschrieben worden (Patriarch
Ignatius Afram Barsaum: Geschichte der syrischen
Literatur, Bar Hebraeus Verlag, Holland, 1987)
Evangeliar aus dem TA (Anschütz)
|
Und in dieser Sprache begann man sehr
früh die Heilige Schrift zu übertragen.
Bei den Syrern (gemeint sind die
Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche)
hat deshalb die syrisch-aramäische
Sprache eine hohe Bedeutung, weil unser
Herr Jesus Christus und seine Jünger sie
sprachen. Syrisch-Aramäisch war auch die
erste Sprache, die bei der Opfergabe in
der Göttlichen Liturgie der christlichen
Kirche gesprochen wurde. So entstand in
dieser Sprache über den Zeitraum von
1800 Jahren eine umfangreiche kirchliche
Literatur, die weit über die Grenzen
dieser Kirche hinausging und fast für
alle Konfessionen von hoher Bedeutung war
und ist.
Die Geschichte der syrisch-orthodoxen
Kirche ist über verschiedene Zeitepochen
hindurch durch Verfolgung und Unterdrückung
geprägt. |
Der
Geschichtsbetrachter wird leicht zum Schluß
kommen, daß die Existenz dieser Kirche fast an
ein Wunder grenzt. Für dieses Wunder gibt es
zwei wichtige Aspekte:
Der 1. ist das Leben ihrer Märtyrer, die stets für
die Gläubigen ein Vorbild sind. Die Verfolgungen
im 5., 6. und 14. Jahrhundert gehören sicherlich
zu den tragischsten Teilen ihrer Geschichte, aber
auch am Anfang dieses Jahrhunderts haben Tausende
Gläubige im Südosten der Türkei vor der Wahl
gestanden, entweder ihr Leben zu retten, indem
sie zum Islam konvertieren oder ihr Leben für
den Glauben hinzugeben. Tausende haben sich für
das letzte entschieden.
Der 2. Aspekt ist das liturgische Leben dieser
Kirche:
Die kirchliche Liturgie, zu der Gebete und die
heiligen Sakramente gehören, hat ihren Ursprung
in den Anfängen des Christentums.
Die ersten Gebete waren Psalmen Davids, die in
der Kirche Verbreitung fanden, da sie Loblieder
von hohem, spirituellem Wert enthalten.
Um die Mitte des 4. Jahrhunderts begannen die
Kirchenväter, speziell komponierte Hymnen in die
Gottesdienste einzuführen. Außerdem verfaßten
sie die erforderlichen Prosagebete, die bis zum
Ende des 7. Jahrhunderts zusammen mit allen
liturgischen Gebeten ihre endgültige Form
erhielten. Im Laufe der darauf folgenden
Jahrhunderte kamen weitere Gebete hinzu.
Die Liturgie der syrischen Kirche hat in der
syrischen Literatur einen wichtigen Stellenwert.
Patriarch Afrem Barsaum ordnet sie in fünfzehn
verschiedene Textgruppen:
1. Das einfache Stundenbuch für die
Wochentage (Schhimo).
2. Lektionar (liturgische Lesungen der Heiligen
Schrift).
3. Anaphora (Die göttliche Liturgie).
4. Panqyotho (Stundenbuch) der Sonntage des
Kirchenjahres.
5. Panqyotho der Herrenfeste und
Heiligenfeiertage.
6. Panqyotho des vierzigtägigen Fastens und der
Karwoche.
7. Husoye (Vergebungsgebete) der Sonntage,
Feiertage, der Fastenzeit und der Karwoche.
8. Liturgien der Taufe, Segnung der Kronen bei
der Trauung, der Krankensalbung und der Buße.
9. Das Buch der Priesterweihen und der
Sakramentsdienste, die speziell den Bischöfen
vor-behalten sind.
10. Buch der zeremoniellen Feiertage.
11. Begräbnisliturgie.
12. Gebetsbücher der Priester und Mönche.
13. Bücher der kirchlichen Melodien.
14. Lebensbuch.
15. Kalendarien der jährlichen Feiertage.
Das Studium der oben erwähnten liturgischen Bücher
ermöglicht dem Studierenden einen Überblick über
die Spiritualität dieser Kirche, die ihren
Ausdruck nicht nur in den formulierten Gedichten
und Texten findet. Die theologische Reflexion
findet ihren Ausdruck nicht nur in den fest
formulierten Texten, sondern auch durch die
Tradition des Glaubens, die damit verbunden ist.Der
syrisch-orthodoxe Gottesdienst ist ein Fest für
die Sinne: der ganze Mensch, alle seine Sinne
werden angesprochen. Die Bedeutung der Symbole
wird einem klar, wenn man regelmäßig den
Gottesdienst besucht. Einige Beispiele sollen
dies verdeutlichen:
Weihnachten
Zu Weihnachten machen die Diakone und der Pfarrer
einen Rundgang durch die Kirche. Sie nehmen die
Bibel vom Altar, der den Thron Gottes im Himmel
symbolisiert, und tragen die Bibel durch die
Gemeinde, durch das Volk. Damit wird gezeigt, daß
Christus vom Himmel auf diese Erde gekommen ist.
Das Wort wurde Fleisch und wohnte mitten im Volk.
Früher wurde ein Rundgang nicht nur durch die
Kirche, sondern aus der Kirche heraus bis zum
Platz in der Mitte des Dorfes gemacht. Dieser
Rundgang vom Himmel zum Volk und wieder zurück
zeigt den Weg Jesu.
Geschichten der Bibel wirklich erleben
In der Karwoche vor Ostern spielt die Geschichte
von den fünf klugen und den fünf törichten
jungen Frauen eine große Rolle. Wenn es dunkel
ist, gehen wir in einer Prozession, bei der nur
Kerzen brennen, durch die Kirche und singen
Lieder, die die Parabel erzählen und auslegen.
Der Vorhang vor dem Altar ist zugezogen,
verschlossen. Dann knien der Pfarrer und die
Diakone vor dem Vorhang nieder. Wie in der
Geschichte bitten sie: "Herr, öffne uns die
Tür." Das sagen sie dreimal, und beim
letzten Mal wird der Vorhang geöffnet, und die
Kirche wird erleuchtet. Das ist ein Moment großer
Freude für die ganze Gemeinde.
Karfreitag lesen wir den Text von dem Dialog der
Räuber, die links und rechts neben Jesus am
Kreuz hängen. Vorne in der Kirche steht ein
Kreuz, und links und rechts daneben ist eine
Kerze angezündet. In dem Moment, wo der Pfarrer
vorliest, daß der eine Räuber nicht an Jesus
glaubt, sondern ihn verspottet, wird die linke
Kerze ausgeblasen. Die rechte Kerze aber brennt
weiter. Das ist natürlich nur ein Symbol, aber
man merkt, wie in der Gemeinde alle den Atem
anhalten, weil sie die Bedeutung dieser Situation
spüren. Das Ausblasen der Kerze ist eine Deutung
dafür, daß die Seele eines Menschen verloren
geht.
Pfingsten und Ostern
So kann man sagen, daß die theologische
Bedeutung in Szene gesetzt wird oder umgekehrt,
daß hinter dem ganzen Schauspiel eine wichtige
Bedeutung steckt. Zu Pfingsten z.B. wird die
ganze Gemeinde mit Wasser besprengt. Und zu
Ostern sagt der Pfarrer laut "Der Herr ist
auferstanden" und die Gemeinde antwortet
"Er ist wahrhaftig auferstanden", und
dann schreien die Frauen mit lauten Jubelrufen.
Das ist auch eine Art des Lobes.
Fasten - mit Körper und Geist
Eine wichtige Rolle spielt auch das Fasten. Es
werden die 50 Tage vor Ostern, die 10 Tage vor
Weihnachten und jeden Mittwoch und Freitag der
Woche gefastet. Am Mittwoch wird der
Gefangennahme Jesu gedacht, am Freitag seiner
Kreuzigung. Manche essen bis zum Mittag nichts,
andere bis zum Abend, andere fasten, indem sie
vegetarisch essen, d. h. keine Produkte vom
lebenden Tier und kein Fleisch. Das ist
verpflichtend für alle in der Gemeinde. Die
Fastenzeit bildet eine schützende Mauer um die
Gemeinde herum. Wenn einzelne nicht mitfasten,
bekommt diese Mauer Risse und Löcher. Das
Wichtigste aber ist nicht, daß der einzelne sich
der Speise enthält, denn jeder weiß, daß das
Fasten ohne Gebet keinen Sinn hat. Es kommt
vielmehr darauf an, Verzichten zu lernen. In der
Leere, im Loslassen merkt man, daß man von Gott
neu gefüllt werden kann. Das ist eine körperliche
und geistliche Erfahrung zugleich. In der Zeit
zwischen Ostern und Pfingsten wird nicht
gefastet, denn das ist die Zeit der Freude, in
der Jesus in Gemeinschaft mit seinen Jüngern
gelebt hat. Aus diesen wenigen Beispielen wird
deutlich:
Nicht die Predigt steht im Mittelpunkt des
Gottesdienstes, sondern die Liturgie.
Zur Situation der Syrisch-Orthodoxen
Kirche in Deutschland:
Seit über 30 Jahren leben syrisch-orthodoxe
Christen in Deutschland. Viele junge Erwachsene
und Kinder sind hier geboren. Sie beherrschen die
deutsche Sprache besser als ihre eigene
Muttersprache (Syrisch-Aramäisch). Ihre
Literatursprache ist Deutsch.
Altbischof Mor Afrem vom TA (Anschütz 68)
|
Die Frage, die sich stellt: Kann
diese Tradition des Glaubens an die hier
geborene und aufgewachsene Generation der
syrisch-orthodoxen Christen weitergegeben
werden, vor allem wie und in welcher
Sprache?
Geht man einen Weg, in dem Versuch, die
syrische Sprache zu bewahren und sie der
jungen Generation in den Gemeindezentren
weiterzugeben, damit sie einen direkten
Zugang zur Liturgie, zu den Gebeten, zu
den Liedern und vor allem zu der
geistlichen Literatur findet, oder
versucht man sich auf die neue Situation
einzustellen, indem man die Liturgie ins
Deutsche überträgt?Zwei Fragen, die
sehr kontrovers diskutiert werden: Zwei
Wege, die jeder für sich radikal sein können. |
In dem ersten Weg
findet der Gläubige nur dann einen vollkommenen
Zugang zu den Gebeten und Liedern, wenn er die
Sprache beherrscht. Ein Zustand, der von der Hälfte
der Gemeindeglieder nicht mehr erfüllt werden
kann. Dieser Weg birgt die Gefahr in sich, daß
Menschen dem Gottesdienst fernbleiben, weil sie
schlicht die Sprache nicht verstehen. Selbst wenn
die Menschen zum Gottesdienst kommen, obwohl die
Sprachbarriere da ist, ist zu befürchten, daß
man bei den Menschen die Bewahrung der Tradition
bewirkt, aber nicht unbedingt die Tradition des
Glaubens. Dieser Weg kann auch dazu führen, daß
sich die Gemeinde gegenüber Menschen anderer
Kulturen und Traditionen, die auf Grund vielfältiger
Beziehungen den Weg in die Syrische Orthodoxe
Kirche gefunden haben, nicht öffnen kann.
Der zweite Weg ist nicht minder radikal:
Eine Übersetzung ist nicht nur eine Inhaltsübertragung,
sondern sie ist auch in gewisser Weise eine
Auslegung. Eine Übersetzung eignet sich sehr
gut, Inhalte des Gebetes und der Liturgie zu
verstehen und sie schließlich auch zu beten. Das
gilt für gesprochene Texte und für meditative
Texte, aber es eignet sich nicht für Lieder und
rezitative Texte, um sie im Gottesdienst
verwenden zu können.
Wer die Gedichte und Lieder von Ephrem dem Syrer
auf Syrisch singen hört und deren Übersetzung
auf Deutsch liest, dem wird klar, welchen Unfug
man treiben würde, wen man versuchte, diese übersetzten
Texte womöglich zu vertonen. Die Feinheit und
die hohe Kunst seiner Gedichte liegt nicht nur in
den theologischen Aussagen, die dort ausgedrückt
werden. Die sind sicherlich von Fachtheologen und
bei bestimmter Begabung in die neue Sprache übertragbar.
Was nicht übertragbar oder sehr schwer zu übertragen
ist, ist die Sprache, der sich Ephrem der Syrer
bedient. Sie ist einzigartig. Die Schlichtheit
der Vokabeln, die Bilder, die er verwendet,
werden von jedem einfachen Syrer verstanden,
sobald er Syrisch kann. Bei Ephrem sind die
Vokabeln aufeinander abgestimmt. Die schlichte
Sprache, der er sich bedient, ist wie eine
Melodie für die Ohren der Gläubigen. Diesen
Verlust kann keine Übersetzung ersetzen.
Aus diesem Grund, aber auch aus vielen anderen Gründen,
die in diesem kurzen Beitrag nicht ausgeführt
werden können, ist es sicherlich ratsam, beide
Wege zu gehen und sie gemeinsam behutsam zu
beschreiten: Den ersten Weg beschreiten, damit
die überlieferte Liturgie, die über
Jahrhunderte bewahrt und an uns übertragen
wurde, nicht verloren gehe,. denn in dieser
Liturgie steckt hohe geistliche Erfahrung. Nur
wer die Sprache beherrscht, wird einen
vollkommenen Zugang zu ihr finden und sich von
ihr beseelen lassen.
Den zweiten Weg mutig beschreiten, damit er
vielen hilft, die in dieser Tradition leben, eine
Tradition des Glaubens zu erleben.
Obwohl die Syrische Orthodoxe Kirche erst seit 30
Jahren hier in Deutschland lebt, hat sie sich
dieser Herausforderung angenommen.
So freue ich mich, daß ich selbst einen Beitrag
leiste, indem ich viele der liturgischen Bücher
mit übersetze.
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