Mar Gabriel Verein -
Mitteilungsblatt 2001
Die
Auswirkungen der Aktivitäten von abendländischen
Missionaren, Wissenschaftlern und
Hilfsorganisationen auf die Situation der
syrischen Christen im Tur Abdin
Dr. Helga Anschütz
Schon seit der
Assyrerzeit im 2. Jt. vor unserer Zeitrechnung
wurde der Tur Abdin - ein bis zu 1500 m hohes
Gebirgsplateau zwischen oberem Tigris und
syrischer Ebene in der heutigen Südosttürkei -
in schriftlichen Quellen erwähnt, auf
assyrischen Keilschriften und später von
Reisenden der Antike. In der Zeit des frühen
Christentums erlebte das Gebiet mit seinen vielen
Klöstern und Einsiedlerhöhlen eine Blütezeit
geistigen und theologischen Lebens. Von seinen
großen Handschriftenbibliotheken, die in der
damaligen Welt des Orients berühmt waren, hat
nur eine geringe, aber um so wertvollere Zahl die
Kriege, Brandschatzungen und Raubzüge
nomadischer Stämme der vergangenen 1000 Jahre überstanden.
Seit den Vernichtungszügen des Tatarkhans Timur
um 1400 geriet der Tur Abdin mit seinen Kunstschätzen
in Vergessenheit. Jahrhundertelang herrschten
dort Elend und Verfall.
Als erster europäischer Reisender in
Obermesopotamien erwähnte der Venetianer Josefa
Barbaro 1471 das unwirtliche Bergland, um 1750
der Portugiese Antonio Teneira, 1718 der Franzose
Tavernier. Am nächsten kam Carsten Niebuhr auf
seiner Reise durch den Orient dem Tur Abdin, dann
Graf Moltke 1841 auf seiner militärischen
Mission nach Kurdistan. Der Geograph Carl Ritter
1840 hat erstmals ausführlicher über die Verhältnisse
im Bereich der heutigen Provinz Mardin berichtet.
Schon vorher, seit dem 17. Jh., stießen
Missionare der Kapuziner von der Mittelmeerküste
aus nach Obermesopotamien und gründeten in
Diyarbakir, Mardin und Mosul neue Zentren für
ihre Missionen unter den dort lebenden
christlichen Armeniern, ostsyrischen "Nestorianern"
und westsyrischen "Jakobiten", deren
Eigenbezeichnung "syrisch-orthodoxe Christen
von Antiochia" lautet.
Während sich die Nestorianer durch die
Verfolgungen der vergangenen Jahrhunderte und
innerer Streitigkeiten in einem desolaten Zustand
befanden und in ihrer Armut gern die Hilfe der
eifrigen Lateiner annahmen, widersetzten sich die
meisten Jakobiten den Anschlußbestrebungen der
Kapuziner-Missionare. Denn in ihrem unwegsamen
Bergland konnten sie ihre Kultur und
Kirchentraditionen besser bewahren, trotz des äußeren
Drucks kurdischer Stämme und interner Zerwürfnisse.
Auch ließen sie sich - im Gegensatz zu den
Nestorianern - nicht durch soziale Einrichtungen,
Krankenstationen und Schulen dazu verlokken,
ihrer alten Kirche und ihrer syrisch-aramäischen
Sprache untreu zu werden und sich der
lateinischen Kirche anzuschließen. Dagegen
schlossen sich ihre ostsyrischen Brüder der
lateinischen Kirche an, ab 1830 der neu gegründeten,
mit Rom unierten chaldäischen Kirche, dem
Patriarchat von Babylon. Sie unterwarfen sich
sogar dem Zwang, auf Lateinisch zu beten und den
Gottesdienst in dieser fremden Sprache zu
zelebrieren; später, wegen der verfügbaren
gedruckten Bibeln und Gebetbücher, nahmen sie
arabisch auf, das sie bis dahin hauptsächlich
nur als Dialekt sprachen. Auch die aramäisch-sprechenden
Dorfbewohner gewöhnten sich an die arabische
Schriftsprache; erst in neuester Zeit wird eine
neu entwickelte chaldäische Schrift wieder im
Gottesdienst der Chaldäer benutzt.
Während die ostsyrischen Chaldäer die Kultur
ihrer alten Kirche einfach aufgaben, andererseits
dafür aber eine bessere Bildung und Kontakte zu
Europa eintauschten, zogen es die Jakobiten im
Gebirge vor, in Isolation und nach
althergebrachter Weise zu leben. Am Ende des 19.
Jhs. konnte die katholische Mission einen Teil
von ihnen wegen Streitigkeiten mit ihren
Priestern und Bischöfen zwar vorübergehend
gewinnen, sie behielten aber ihre Sprache und die
Traditionen bei und konnten ohne Probleme nach
den Verfolgungen im 1. Weltkrieg wieder zu ihrer
alten Kirche zurückkehren. Die Aktivitäten der
katholischen Mission haben ihr Leben kaum verändert.
Von den vorübergehend katholischen Gemeinden in
der Kreisstadt Midyat und in den Dörfern
Kerburan, Bote, Idil und Killit ist außer
einigen Gebäuderesten nichts geblieben.
Etwas anders erging es den Missionen des "American
Board of Commisions for Foreign Mission,"
die um 1850 kleine Stationen in den genannten
Ortschaften gründeten. Dank einer intensiven
Sozial- und Bildungsarbeit gewannen sie zeitweise
einen beträchtlichen Teil der syrisch-orthodoxen
Gemeinden. Auf ihren Einfluß geht z.B. die Einführung
der Predigt, von Kirchenmusik und Mädchenchören
zurück. Die Kirche Mart Maryam besaß um 1965
eine Orgel, wie sie früher bei den
orientalischen Christen unbekannt war. Auch die
Aktivierung der Gläubigen, besonders der Mädchen,
geht wahrscheinlich auf protestantischen Einfluß
zurück.
Wie die Lateiner, so versuchten auch die
Protestanten, die kirchlichen Traditionen der
Syrer als Aberglauben abzutun. Syrische Bibeln
wurden gegen Bücher in Arabisch eingetauscht, später
auch in Türkisch. Dadurch fanden die von den
Protestanten gewonnenen Tur Abdin-Christen eher
Kontakte zur Außenwelt, besonders nach Syrien,
Libanon, Istanbul und schließlich nach
Nordamerika.
Aber im 1. Weltkrieg erlitten Christen aller
Kirchen und Konfessionen als "Verräter",
und "Spione" in der Türkei die
gleichen Verfolgungen. Zehntausende wurden getötet.
Am Ende blieb die alte Kirche als eine "nationale"
Kirche übrig, die sich nicht den Feinden
angeschlossen hatte. Unter der Regierung Atatürks
und später nach dem 2. Weltkrieg unter Menderes
erlebte die syrisch-orthodoxe Kirche im Tur Abdin
und in Istanbul eine Blüte. Die meisten
Katholiken und Protestanten kehrten zu ihr zurück.
Mit der Gastarbeiter- und Asylantenwelle ab 1962
und 1972 aber wurden neue Kontakte zu den Kirchen
der Gastländer geknüpft. Die lange Zeit der
Verfolgungen hatte in den Tur Abdin-Christen eher
das Gefühl der Gemeinsamkeit aller Christen gestärkt.
In Ermangelung eigener Priester und Kirchen
schlossen sie sich in Deutschland der jeweiligen
Kirche ihres Heimatortes an, sei sie katholisch,
evangelisch oder freikirchlich; denn sie hatten
diese schon in ihrer alten Heimat kennengelernt.
So hatten die Aktivitäten der abendländischen
Missionen im Tur Abdin zwei Seiten: sie weckten
ein christliches Gemeinschaftsgefühl, gaben
ihnen durch eine bessere Ausbildung mehr
Zukunftschancen, verbesserten ihre Lebensumstände
und erleichterten ihnen in ihrer neuen Heimat
Anpassung und Integration. - Andererseits
erzeugten sie noch mehr Spannung zu ihrer
moslemisch-kurdischen Umwelt und leisteten der
kulturellen Entwurzelung und Auswanderung
Vorschub.
Für wissensdurstige abendländische
Wissenschaftler und Reisende, durch Berichte von
Missionaren motiviert, waren die syrischen
Christen vom Tur Abdin interessante
Studienobjekte. Aber vor allem hatten sie es auf
die sagenhaften syrischen Handschriften
abgesehen, die zum Teil noch in Gebrauch,
teilweise aber im Verborgenen vor Räubern
gerettet waren. Sie stellten unschätzbare Werte
dar. Einige alte Manuskripte waren bereits früher
von katholischen Missionaren aufgefunden und an
verschiedene italienische und französische
Bibliotheken weitergereicht worden. Mehrere
Wissenschaftler haben sie hauptsächlich ins
Französische übersetzt und bearbeitet und waren
daran sehr interessiert, noch mehr von diesen Schätzen
des Orients aufzufinden. - U.a. hat der deutsche
Orientalist Eduard Sachau am Ende des 19. Jhs.
einige alte syrische Handschriften im Tur Abdin
durch Einheimische aufgestöbert und heimlich
nach Berlin geschafft. Damals schon war es im
Osmanischen Reich staatlicherseits, aber auch
durch die Kirchen verboten, das alte Kulturgut außer
Landes zu schaffen. Auch andere Wissenschaftler
hatten Erfolg mit dem Besorgen von unersetzlichen
Handschriften.
Silberschmiede in Midyat (Anschütz 1968)
Zwar verlor die
syrisch-orthodoxe Kirche dadurch einen Teil der
Reste ihrer einstmals großen Bibliotheken,
jedoch wurden sie auch einem größeren Kreis
abendländischer Wissenschaftler zugänglich
gemacht - viele vor Krieg und Raub gerettet. Nach
dem Exodus der meisten syrischen Christen aus
ihrer Heimat konnten einige ihrer Theologen mit
diesen "entführten" Manuskripten
arbeiten. Wertvolle Handschriften lagern heute
noch an geheimen Ort in den Klöstern und Kirchen
des Tur Abdin und werden nur besonderen Gästen
zugänglich gemacht. - Das Bewußtsein, einem
alten Kulturvolk zu entstammen, wird vor allem
durch die alten Handschriften bei den syrischen
Christen in aller Welt gestärkt. Der Erzbischof
von Westeuropa Julius Yeshu Cicek hat deshalb
auch ein Evangeliar aus dem 14. Jh. als Faksimile
in prachtvoller Form herausgegeben und damit sein
Kirchenvolk in aller Welt für Kirche, Kultur und
Heimat sensibilisiert.
Während kirchliche und humanitäre
Hilfsorganisationen bei den Nestorianern (Assyrern)
schon während des 1. Weltkriegs und danach bei
den Nestorianern, die durch Flucht und
Vertreibung alles verloren hatten, intensiv tätig
waren, gerieten die syrischen Christen vom Tur
Abdin in Vergessenheit. - Nach den Schrecknissen
des 1. Weltkriegs kehrten sie aus Verstecken und
Ruinen in ihre Dörfer zurück, soweit sie den
Krieg überlebt hatten. Rasch bauten sie ihre Häuser
aus dem einheimischen Kalksandstein wieder auf
und erlebten unter der Regierung Kemal Paschas (Atatürk)
einen Wiederaufstieg. Sie waren weitgehend von
der Außenwelt abgeschnitten, weil die Südosttürkei
wegen der Kurdenunruhen und Grenzprobleme bis
1965 zum Sperrgebiet erklärt worden war. Abendländische
Reisende, Wissenschaftler und Missionare konnten
ohne staatliche Genehmigung hierhin nicht reisen.
Meistens wurde das Verbot eingehalten.
Christliche Missionen waren unter Atatürk
verboten. Das stärkte die alte syrisch-orthodoxe
Kirche; sie erlebte einen Aufschwung auch im
geistigen Bereich. Ihrer frommen Anhängerschaft
ging es wirtschaftlich immer besser, zumal auch
die kurdischen Nachbarn nach dem Krieg ihren
Lebensstandart steigerten und im Marktort Midyat
gute Geschäfte mit den christlichen Kaufleuten
und Handwerkern machten.
Diese Blütezeit wurde durch den 2. Weltkrieg
unterbrochen. Trotz ihrer Neutralität stellte
die türkische Regierung Christen und andere
nichtmoslemische Religionsgruppen als "unzuverlässige
Bürger" unter diskriminierende
Sondergesetze. Z. B. durften die syrischen
Christen den Tur Abdin nicht verlassen und auch
beim Militär wurden Christen diskriminiert.
Obwohl sich die Lage nach dem Krieg entspannte
und eine neue wirtschaftliche Konsolidierung
einsetzte, vergaßen die Syrisch-Orthodoxen die kürzliche
Unterdrückung nicht. Zudem litten sie wegen der
Zypernkrisen und den Spannungen zwischen der Türkei
und Griechenland und mußten zeitweise als
Christen unter dem Volkszorn aufgebrachter
moslemischer Kurden leiden. Ängste blieben unter
ihnen lebendig und so nutzten die Ersten die
Gelegenheit, durch das deutsche Arbeitsamt in
Mardin ab 1962 als Gastarbeiter zuerst nach
Deutschland, später in andere europäische Länder
zu gehen.
Dort wiesen sie immer wieder auf die
Verfolgungssituation in ihrer Heimat hin. Ab 1972,
dem Anwerbestop in Deutschland, und in den
darauffolgenden Jahren, besonders seit 1976,
fanden sich Kirchen und Hilfsorganisationen, die
ihnen helfen wollten, in Europa eine neue Heimat
zu finden. Meistens waren es gläubige Christen,
die ihren Brüdern aus der "feindlichen"
islamischen Welt helfen wollten oder
Menschenrechtler, die in Unkenntnis der Lage in
"Kurdistan" Kurden und Assyrern bzw.
Aramäern die Flucht nach Europa ermöglichen
wollten. Oft trafen sich die früheren Feinde in
Asylantenlagern wieder. - Erst nach dem
Massenauszug der Christen aus dem alten
Kulturland und dem drohenden Ende christlichen
Lebens in jener Region, wurden verschiedene
Hilfsorganisationen, Kirchen und private
Initiativen aktiv, um sich um die im Tur Abdin
verbliebenen Christen zu kümmern - fast zu spät;
denn die auseinander gerissenen Familien wollten
wieder zusammenkommen und in Europa wegen ihrer
daheim gebliebenen Verwandten nicht mehr durch
die Abgesandten kurdischer Feudalherren erpreßbar
sein. Viele zahlten regelmäßig Tribut, um ihre
Angehörigen im Tur Abdin nicht der Willkür der
Großgrundbesitzer auszuliefern.
Die meisten wohlgemeinten Hilfsaktionen, u.a. des
Weltrates der Kirchen, von Missio und anderen
Organisationen oder Privatinitiativen konnten den
Auszug der syrischen Christen aus ihrer Heimat
nicht bremsen, bewirkten oft eher das Gegenteil.
Denn die kurdischen Nachbarn sahen neidisch auf
die Christen, denen es hauptsächlich dank der
westlichen Hilfen besser als ihnen ging. Z. B.
wurde ein für 120.000 DM gespendeter Mähdrescher,
den das christliche Dorf Midin erhielt, Ursache
von Nachbarschaftsstreit zwischen den syrisch-christlichen
und kurdischen Dorfbewohnern; auch gingen die
Entführung des Priesters Melke Tok und eines
Sonntagsschullehrers mit auf das Konto des Mähdreschers;
schließlich wurde er billig weiterverkauft.
Anderen Projekten, z.B. ein Fischteich im Dorf
Hah oder eine Nudelfabrik in Midyat, erging es
nicht besser. Ein großer Teil der gespendeten
Gelder wurde zum Ausbau des Klosters Mar Gabriel
verwendet. Jetzt ist es das Zentrum der syrisch-orthodoxen
Christen in der Südosttürkei und
Anziehungspunkt für viele Emigranten, die sich
jetzt wieder in ihre alte Heimat wagen.
Allerdings ist durch die modernen Anbauten des
festungsartigen Klosterkomplexes der
kulturhistorische Charakter des 1700 Jahre alten
Bauwerks weitgehend verlorengegangen und die
Distanz zur kurdisch-muslimischen Nachbarschaft
manifestiert. Für die Christen im und aus dem
Tur Abdin ist das Kloster Mar Gabriel ein
Monument ihres unerschütterlichen Glaubens und
ihrer Tüchtigkeit.
So haben die Hilfsaktionen der letzten Jahrzehnte
zwar den Auszug aus der Heimat gefördert und
viele syrische Christen ihrer alten Kultur
entwurzelt, ihnen andererseits aber in der Ferne
Wohlstand und Sicherheit gebracht. Ob ihre Kultur
überleben wird, hängt von der moralischen und
geistigen Kraft ihrer Kirche und davon ab, ob die
junge Generation den Weg zu ihren Wurzeln zurückfinden
und eine eigene Identität entwickeln kann.
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