Mar Gabriel Verein -
Mitteilungsblatt 2001
Fortsetzung der Festrede
Nun zurück zum Turabdin. Gegenwärtig leben
noch rund 2000 Suryoye in einigen Dörfern des
Turabdin. Ihr geistliches Zentrum ist das Kloster
Mar Gabriel. Von dort aus erfahren sie Unterstützung,
dorthin schicken sie ihre Kinder auf die weiterführende
Schule. In diesem altehrwürdigen Kloster mit
1600 jähriger Tradition lebt ein Mann, den man
Malfono "Lehrer" nennt. Dieser Lehrer
mit dem aramäischen Namen Isa Garis und türkisch
Isa Gülten lebt schon seit mehr als 25 Jahren
samt seiner Frau und Kindern im Kloster Mar
Gabriel und unterstützt den Erzbischof Mor
Timotheos Aktas bei seinen vielfältigen Aufgaben.
Er unterrichtet in der Klosterschule und leitet
sie. Darüber hinaus ist er als Stellvertreter
des Bischofs Ansprechpartner für Gäste und
Besucher des Klosters. Die meisten Lehrer der
kirchlichen Schulen der letzten Jahre haben bei
ihm Unterricht genossen. Auch viele Pfarrer,
inzwischen mit eigenen Kirchengemeinden in
Europa, hat er ausgebildet. Deshalb wird er
Malfono genannt. Zwar heißt jeder Lehrer im
Turabdin Malfono, nicht aber jeder wird auch mit
diesem Titel angeredet.
Herr Gülten stammt ursprünglich aus einem Dorf
namens Bote, nördlich von Midyat, ein Dorf, in
dem heute nur noch Kurden leben. Sein Dorf Bote
ist die Werkstatt der turabdiner Tonware gewesen.
In Bezug auf die Herstellung der Tongefäße im
Dorf Bote, kursiert im Turabdin folgende
Geschichte:
"Vor vielen Jahren sollen deutsche
Reisende nach Bote gekommen, und von der
handwerklichen Geschicklichkeit dieser Töpfer
bei der Herstellung von Tongefäßen aller Art,
fasziniert gewesen sein. In einer Werkstatt
befand sich auch eine manuelle Drehscheibe. Die
Deutschen erblickten wohl das erste Mal eine
Drehscheibe, denn sie sahen diese als eine große
Errungenschaft an; sie sollen gesagt haben:
"Wenn ihr euer Handwerk so fortsetzt und
erweitert, werdet ihr damit weit kommen."
Viele Jahre später sollen diese Deutschen wieder
gekommen sein und festgestellt haben, daß sich
im Laufe der Jahre nichts verändert hatte in
Bote, es war alles beim alten geblieben. Auch die
Töpferscheibe wurde immer noch manuell gedreht.
Daraufhin sollen diese gesagt haben. "wir
haben uns geirrt, aus euch wird nichts mehr
werden, denn seit mehreren Jahren habt ihr in
eurer Arbeit überhaupt keine Fortschritte
gemacht"."
Diese deutschen Reisenden wußten natürlich
nicht, daß im Turabdin und Umgebung, im
Gegensatz zu Europa, schon seit mehr als 5000
Jahren die Drehscheibe bei den Töpfern bekannt
war und mit ihr auch sehr feine Tongefäße
hergestellt wurden. Es hatte sich also schon seit
mehreren Jahrtausenden nichts mehr verändert und
auch die landwirtschaftlichen Geräte waren die
gleichen, die man seit über 2000 Jahren
verwendete. Es konnte nichts neues entwickelt
werden, weil dafür die Rahmenbedingungen fehlten.
Es gab keine Schulen und Ausbildungsstätten für
die Jugendlichen und Kinder in den Dörfern. Und
nach der üblichen fünfjährigen türkischen
Grundschule, nach Gründung der modernen Türkei,
waren die Aussichten auf weiterführende Schulen
begrenzt und finanziell schwer tragbar. Deshalb
pflegte man sich mit altbewährten Methoden
seinen Lebensunterhalt im Dorf zu verdienen. Auch
Herr Gülten würde wohl den gleichen Weg
eingeschlagen haben, wie alle anderen im Dorf, wäre
da kein Mann, der in ihm besondere Fähigkeiten
erkannte. Der alte turabdiner Bischof Mor Afrem
im Kloster Mar Gabriel war, bevor er Bischof
wurde, ein verheirateter Dorfpriester in Bote.
Dieser nahm den jungen Isa ins Kloster mit und
sorgte dafür, daß er eine angemessene
Ausbildung bekam und schickte ihn in den Libanon,
wo er eine akademische Ausbildung genoß. Danach
kehrte er wieder in die Heimat zurück. Der
Bischof Mor Afrem soll die Absicht gehabt, haben
den jungen Isa zum Mönchtum zu überreden, er
habe ihn nämlich in seiner Nachfolge sehen
wollen. Der Bruder des Bischofs habe, so sagte
mir ein alter Mann aus seiner Verwandtschaft,
diese Pläne durchkreuzt, in dem er den Isa überzeugte,
seine Tochter zu heiraten. Obwohl er nun
verheiratet war und kein Mönch mehr werden
konnte, um dem Bischof bei seiner Arbeit zu
helfen, konnte der Bischof in der schwierigen
Lage Ende der siebziger Jahre auf ihn doch nicht
verzichten. So holte er ihn samt seiner Frau ins
Kloster und beauftragte ihn mit der Leitung der
Klosterschule. Diese Aufgabe hat er meisterhaft
bewältigt und ist daran groß geworden. Auch
einige der heutigen Bischöfe, Mönche und
Priester haben seine Schule absolviert.
Neben seiner Tätigkeit als Lehrer und Leiter der
Schule, entwickelte er sich zu einem vielseitigen
Menschen, der neben Englisch auch alle Sprachen
der Region spricht und sie tagtäglich anwendet.
Dadurch konnte er Brücken bauen zwischen der
Staatsregierung und den Dorfbewohnern, Suryoye
und Kurden. Von allen wird er hoch angesehen und
respektiert. Vor allem sein diplomatisches
Geschick hat die Suryoye im Turabdin schon
mehrmals vor schlimmerem bewahrt. Durch ihn
wurden mehrfach von den Behörden aus Ankara verhängte
Verordnungen zur Schließung der Klosterschule
nicht durchgesetzt. Und mehrmalige Androhungen,
das Kloster für ausländische Gäste zu schließen,
konnte er durch sein Talent ebenfalls abwenden.
Und weiterhin steht das Kloster Mar Gabriel 24
Stunden am Tag offen für alle Gäste.
Daß Herr Gülten sich so etablieren konnte, hat
er zuletzt doch am meisten dem jetzigen
Erzbischof des Turabdin, seinem Vorgesetzten Mor
Timotheos Samuel Aktas zu verdanken, der ihn seit
Jahren unter seinem Schutz gewähren läßt und
ihm den Rücken stärkt.
Herr Isa Gülten ist ein Mensch, der mit Medien
umgehen kann und der wichtigste Ansprechpartner für
ausländische Gäste des Klosters, die in den
letzten Jahren immer zahlreicher wurden und denen
die Turabdiner sonst nie gewachsen wären. Und
gerade sein gekonnter Umgang mit Politikern,
Gesandten und Kirchenführern aus dem In- und
Ausland hat ihn zum Hoffnungsträger für die im
Turabdin verbliebenen Suryoye gemacht, für die
er ein Symbol der Heimatverbundenheit geworden
ist. Wie die meisten seiner Freunde und
Verwandten, hätte auch er nach Europa,
insbesondere nach Schweden, auswandern können.
Diese Möglichkeit hat er stets ausgeschlagen, er
wollte lieber bei seinem Volk in der Heimat
bleiben. Die Hoffnung hat er nicht aufgegeben, daß
auf den Turabdin schöne Zeiten zukommen. Er
ermutigt die im Ausland lebenden Turoye, ihre
Heimat regelmäßig zu besuchen und wenn möglich,
sogar ganz zurückzukehren.
In dem Herr Gülten auch die kurdischen Dörfer
besucht und enge Kontakte zu den Kurden und den Türken
der Region pflegt, versucht er die Beziehung der
verschiedenen Bevölkerungsgruppen untereinander
zu verstärken und dadurch für Versöhnung und
angenehme Atmosphäre zwischen den einzelnen Bevölkerungsgruppen
zu sorgen. Mit seinen Aktivitäten ist es zu
verbinden, daß das Kloster Mar Gabriel zu einem
geistlichen Zentrum und Anlaufstelle, nicht nur für
Christen, sondern auch für Hilfe suchende
Muslime geworden ist.
Sicherlich kommt es nicht oft vor, daß
Mitglieder des Volkes der Suryoye (Aramäer,
Assyrer, Chaldäer bzw. syrische Christen) aus
den Heimatländern des Orients in der westlichen
Welt mit einem Preis wie diesem geehrt werden. Um
so größer ist die Bedeutung dieser
Preisverleihung, nicht nur für die beiden
Preisträger, sondern auch für das ganze Suryoye-Volk.
Es hat einen kaum zu überschätzenden ideellen
Wert für die in ihrer Heimat im Südosten der Türkei
zurückgebliebenen Suryoye.
Die Verleihung dieses Preises an zwei Personen
aus ihrer Mitte wird die Suryoye im TA in ihrem
Willen, ihre Heimat nicht mehr zu verlassen bestärken
und auch einige von der Auswanderung abhalten.
Andere aus der Diaspora-Gemeinde wird sie
ermutigen, ihre alte Heimat zumindest regelmäßig
zu besuchen und eventuell an eine endgültige Rückkehr
zu denken.
Dies würde sich auch auf die zukünftige
Entwicklung einer anderen charakteristischen
Eigenschaft der Suryoye aus dem Turabdin, die
hier noch nicht erwähnt wurde, positiv auswirken.
Die Turabdiner, meine Damen und Herren, haben
neben vielem anderem auch eine sehr alte Sprache.
Sie sprechen aramäisch, besser einen aramäischen
Dialekt, mit der wissenschaftlichen Bezeichnung
Turoyo, der mit der von Jesus Christus in Palästina
gesprochenen aramäischen Sprache eng verwandt
ist. Diese, wissenschaftlich höchst interessante
Sprache ist der einzige aramäische Sprachzweig
im westtigridischen Raum, der die Vorgänge im
letzten Jahrhundert überlebt hat. Alle anderen
aramäischen Sprachzweige, die bis ins 20. Jh.,
auch in der Umgebung von Diyarbakir, gesprochen
wurden, sind mit einer einzigen Ausnahme ohne
Dokumentation ausgestorben. Durch die Ereignisse
im ersten Weltkrieg und die Auswanderung aus dem
Turabdin wurde auch das Turoyo, die aramäische
Sprache des Turabdin stark dezimiert. Daß sie in
der Diaspora nicht überleben kann und jetzt vom
Aussterben bedroht ist, ist nicht nur
Wissenschaftlern, sondern inzwischen auch den
Sprechern selbst bewußt geworden. Es wird aber
im westlichen Ausland nur Marginales gegen diesen
Prozeß der Spracherosion getan. Wenn sich die
Lage im Turabdin, auch durch das Engagement der
beiden heutigen Preisträger, stabilisiert und
die restlichen Turabdiner in der Heimat bleiben,
wird, so denke ich, auch die Gefahr der
Spracherosion für die aramäische Sprache des
Turabdin, zumindest in der angestammten Heimat,
abgewendet werden können.
Die beiden Preisträger, Malfono Isa Gülten und
Pfarrer Yusuf Akbulut, die am heutigen Tag mit
dem Shalom-Preis, passender wäre hier Shlomo-Preis
zu sagen, geehrt werden, sind zwei typische
Gestalten aus dem Suryoye-Volk, zwei Seiten einer
Medaille.
Malfono Gülten, der Besonnene, reich an
Lebenserfahrung und Vorsicht, berühmt für seine
Rücksicht auf die Befindlichkeiten seiner Gesprächspartner
und seiner diplomatischen Ausdrucksweise, wodurch
er im Turabdin, auch unter der kurdischen Bevölkerung,
eine hohe Anerkennung genießt, auf der einen
Seite, und auf der anderen Seite, der junge
Pfarrer, der vielleicht unvorsichtig, aber doch
geradlinig versucht, sich in der Millionenstadt
Diyarbakir zu behaupten, seine verschwindend
kleine Gemeinde zu führen und die Tore der St.
Marienkirche in der alten mehrfachen
Bischofsstadt Amid bzw. Diyarbakir für Gäste
und Besucher offen zu halten.
Beiden danke ich für ihr Engagement für die
Menschlichkeit und gratuliere ihnen zu dem Preis
von Herzen.
Ihnen, meine Damen und Herren, danke ich für Ihr
geduldiges Zuhören.
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