Mar Gabriel Verein - Mitteilungsblatt 2001


Festrede
ZU DER VERLEIHUNG DES SHALOM-PREISES
DES AK FÜR GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN AN DER
KATHOLISCHEN UNIVERSITÄT EICHSTÄTT
AN MALFONO ISA GÜLTEN UND PFARRER YUSUF AKBULUT
AUS DEM TURABDIN,
Eichstätt, 23. Juni 2001, 19.30 Uhr
DR. SHABO TALAY


Magnifizenz, Spektabilität,
Herr Oberbürgermeister,
Verehrte Mitglieder des Arbeitskreises Shalom
Meine Damen, meine Herren,

Der Berg der Knechte Gottes, der Tur Abdin, erlebte in den letzten Jahren eine wechselvolle Geschichte. Bei den syrischen Christen in der Diaspora ist wieder Hoffnung auf Besserung der Lage aufgekommen und die Türkei, auch die kurdischen Nachbarn schienen in den syrischen Christen nicht mehr die Feinde und eventuelle Kollaborateure des Westens gesehen, sondern sie als Christen mit eigener religiöser und sprachlicher Identität im Land akzeptiert zu haben. Allerdings hat sich im vergangenen Jahr einiges ereignet, so daß heute die Lage wieder schwieriger geworden ist. Dem Priester der syrisch-orthodoxen Kirche in Diyarbakir wurde Hochverrat und Volksverhetzung vorgeworfen.
Was war geschehen?
Im Zuge der Diskussion um die offizielle Anerkennung des Völkermords an den Armeniern in Frankreich und in den USA, haben auch syrische Christen weltweit versucht, daran zu erinnern, daß auch die Nation der syrischen Christen "Suryoye" (Aramäer, Assyrer und Chaldäer) zusammen mit den Armeniern massakriert und vertrieben wurde. Auch die Türkei verfolgte diese Diskussion mit großem Interesse und einige Aktivitäten, wie die der französischen Nationalversammlung und des US-Kongresses gingen ihr unter die Haut. Wohl deshalb wollten die türkischen Journalisten, unter ihnen einige von der großen türkischen Tageszeitung Hürriyet, genau wissen, was die Suryoye, türkisch Süryani, zu diesen Vorwürfen gegen die Türkei sagen würden.


Pfarrer Akbulut (AK Shalom)

Sie interviewten den syrisch-orthodoxen Pfarrer von Diyarbakir Yusuf Akbulut und ließen ihn in ihre Falle tappen. Ein Pfarrer kann nichts verleugnen, nein, "er müsse als Gottesmann die Wahrheit sagen" sagte er. Diese Wahrheit war etwas, das zwar den meisten bekannt ist, aber trotzdem wird ihre Erwähnung in der Türkei mit Hochverrat und Volksverhetzung gleichgesetzt und dem entsprechend bestraft.
Der Priester sagte nur das, was im Südosten der Türkei von den meisten Ansässigen nicht bestritten wird. Es wurden nämlich nicht nur die Armenier, sondern alle Christen, insbesondere die Suryoye der Provinzen beziehungsweise Vilayets Diyarbakir und Van, in denen die meisten Suryoye lebten, massakriert. Dies hat sich in dem kurdischen Sprichwort "pivaz pivaza" (d.h. jede Zwiebel ist eine Zwiebel) manifestiert, nachdem bei der Verfolgung kein Unterschied zwischen Armeniern und anderen Christen gemacht wurde. Jeder Christ, dessen man habhaft werden konnte, wurde zum Teil bestialisch getötet oder vertrieben.

Auch wenn der direkte Befehl zur Ausrottung der syrischen Christen nicht von den Machthabenden in Istanbul gekommen sein sollte, was ich bezweifle, denn eines der weitverbreiteten Bezeichnungen für den Völkermord im Aramäischen lautet: "firman" und das kann eigentlich nur "ein Befehl des Herrschers" bedeuten so verschonte sie die Ausrottungsmaschinerie der türkisch-kurdischen Militäreinheiten doch nicht. Das Ergebnis war, daß hunderte Dörfer und Städte entchristianisiert wurden. Östlich des Tigris konnten nur ca. 10 Dörfer durch ihre Feudalherren geschützt werden, von denen die letzten in den neunziger Jahren des 20. Jh. vom türkischen Militär zwangsgeräumt und mit Panzern und anderem Schweren Gerät platt gewalzt wurden. Westlich des Tigris haben außerhalb des Turabdin nur ein Dorf bei Mardin und auch im Zentrum des Turabdin nur einzelne Dörfer, sich unter großen Verlusten gegen die Übermacht der Gegner verteidigen können.
Heute leben in dem zu Beginn des 20. Jh. mindestens zu 30% christlichen südosttürkischen Raum, nur rund 2-3 tausend Suryoye.
Der Fall Akbulut in der Türkei hat in der westlichen Welt für Empörung gesorgt. Man wunderte sich über den in der Türkei herrschenden Umgang mit dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung. Aber nur wenige Länder haben sich mit dem Hintergrund des Falles Akbulut und den Ereignissen während des 1. Weltkriegs im NATO-Land, EU-Anwärter und wichtigen Partner für die eigene Wirtschaft Türkei wirklich befaßt.
Um an die Ereignisse beziehungsweise Erlebnisse der Suryoye zu erinnern, möchte ich hier zwei Überlebende aus einem Dorf knapp 100km nordöstlich von Diyarbakir, eine Frau und einen Mann zu Wort kommen lassen, die nur zufällig ihre Erlebnisse während des 1. Weltkrieges auf einem Tonband schildern durften:

"Niemand blieb in Mlahsô übrig.
Absolut niemand. Alle töteten sie.
Sie töteten sie, sie ließen nichts übrig
- keine Kinder, keine Frauen, nichts."
"Wir waren zweihundert Familien.
Alle töteten sie.
Von hundert Personen sind keine vier
entkommen, alle wurden getötet.
Alle brachten sie um und schlachteten sie. Und ihre Bäuche schlitzten sie auf.
Sie rissen die Kinder aus den Leibern der Frauen heraus.
Sie taten alles.
Das, was uns zugestoßen, ist möge
niemandem zustoßen.
Unsere Häuser wurden zerstört.
Auch unsere Kirchen zerstörten sie."

Nach den Wirren des Krieges hatten einzelne Suryoye aus diesem Dorf in muslimischen Dörfern, zumeist als Muslime getarnt, Zuflucht gefunden und die Vertreibung und Massaker überlebt. Eines Tages gingen von diesen einige in die Stadt Diyarbakir und sahen die Marienkirche, hörten die Kirchenglocken und sagten:

"Was? Es gibt ja Christen in der Stadt und
in der Kirche werden die Glocken geläutet.
Sie läuten die Glocken,
wirklich es gibt Christen in der Stadt.
Sagst du die Wahrheit? -
Ja es gibt Christen.
In der Kirche von Meryem Ana gibt es Christen.
Daraufhin machten wir uns auf und flohen in die Stadt.
Wir kamen in die Stadt und ließen uns dort nieder.
Wir sahen, daß die Glocke geläutet wurde und sagten dreimal:
Gott sei dank, daß es noch Christen
auf der Welt gibt.

Diese Sätze bzw. Satzbrocken nahm der deutsche Orientalist und Dialektforscher Otto Jastrow im Jahre 1968 in der Marienkirche zu Diyarbakir mit Hilfe des damaligen Erzpriesters Aziz Günel auf und veröffentlichte sie in einer Dialektmonographie im Jahre 1994. (Otto JASTROW: Der neuaramäische Dialekt von Mlahsô. Semitica Viva. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1994)
Diese Sätze sagen schon alles über die Tat-sache des Völkermordes.

Meine Damen und meine Herren,
Ja es gibt Christen in der Mutter Maria Kirche zu Diyarbakir und aus dieser ertönen die Glocken und rufen heute noch zum Gebet auf. Es sind insgesamt rund 60-70 Personen, zwei Armenische, zwei syrisch-katholische, eine protestantische und drei syrisch-orthodoxe Familien, die sich um ihren Geistlichen, den syrisch-orthodoxen Pfarrer Yusuf Akbulut scharen. Es sind die letzten Zurückgebliebenen oder sollen wir besser sagen Überlebenden der schon über 85 Jahre zurückliegenden Christenverfolgung in und um Diyarbakir. Die größte Stadt im Südosten der Türkei ist mehrere Tausend Jahre alt und unter ihrem alten Namen Amid bekannt. Eine Stadt vor dem 1. Weltkrieg mit vielen Kirchen, verschiedenen Konfessionen und lebhafter christlicher Bevölkerung, kann heute mit mehr als einer Million Einwohner gerade noch 70 Personen christlichen Glaubens ertragen.
Alle anderen sind weg.
Freiwillig wegmarschiert, wie es offiziell heißt, oder unter großer Gewaltanwendung vertrieben und deportiert?
Wohin?
Wo sind sie geblieben?
Von den schätzungsweise 170.000 Christen in und um Diyarbakir vor 1914 ist also nur diese kleine Schar von 70 Personen zurückgeblieben.
Dies sind Tatsachen, meine Damen und Herren, die von niemanden, nicht einmal von den Kurden und Türken geleugnet werden können.
Das und nicht mehr wollte Yusuf Akbulut mit seinem inzwischen berühmten Satz in der Zeitung Hürriyet: "nicht nur die Armenier, sondern auch wir, die Suryoye, wurden massakriert" sagen. Die Überlebenden der Massaker wurden zusammengepfercht und auf Kalaks, den Tigris-Flößen, gen Süden verfrachtet, nur wohin, mit welchem Ziel? In Mossul sind nur ganz wenige angekommen. Unterwegs wurden sie überfallen, ausgeraubt und in die Fluten des Tigris geworfen.
Andere wurden in Fußmärschen, im wahrsten Sinne des Wortes, in die Wüste geschickt. Einen solchen Todesmarsch beschreibt die amerikanische Schriftstellerin Thea Halo, deren Vater ein Suryoyo aus Mardin und die Mutter eine Pontiusgriechin ist, in ihrem im Sommer 2000 erschienen Buch "Not even my name".

Diyarbakir, meine Damen und Herren, wurde auch von den Überlebenden des Völkermordes verlassen. Weil es ihnen keinen Schutz bot. Wenn es trotzdem noch die kleine Gemeinde von Akbulut gibt, so ist es insbesondere der syrisch-orthodoxen Kirche zu verdanken, die in dieser Stadt immer mit einem Priester präsent war und dadurch den Gläubigen Halt bot, in ihrer Heimatstadt zu bleiben. Zu Zeiten der Not, müssen sich die Christen aneinander klammern und deshalb können heute Mitglieder verschiedener Konfessionen gemeinsam in der Marienkirche Gottesdienste feiern, ohne große ökumenische Vorarbeiten.
Allein die Tatsache, daß der Priester Akbulut sich entschieden hat in dieser Stadt christliche Präsenz zu zeigen und furchtlos seine kleine Herde leitet, ist höchste Anerkennung wert. Aber, da er darüber hinaus gewagt hat, ein Thema mit in der Türkei höchster Brisanz, das für ihn eine lange Haftstrafe in den berüchtigten türkischen Gefängnissen bedeuten könnte, anzusprechen, hat er es mehr als verdient, den Shalom-Preis des Arbeitskreises Shalom der Katholischen Universität Eichstätt am heutigen Abend verliehen zu bekommen.
Daß Pfarrer Akbulut für seine Aussagen nicht verurteilt wurde, hat er übrigens nicht der türkischen Rechtsprechung zu verdanken, sondern den vielen Menschen, die im Inland, aber insbesondere im Ausland sich unermüdlich für ihn eingesetzt haben. Einige dieser engagierten Menschen befinden sich hier unter uns. Allen diesen Menschen, deren Name nur zum Teil bekannt ist, möchte auch ich von hier aus einen ausdrücklichen Dank aussprechen.

Der Vorstoß von Akbulut hat die Suryoye-Gemeinde in der Diaspora überall auf der Welt wachgerüttelt. Die Menschen begannen sich wieder mit ihrer Geschichte aus dem letzten Jahrhundert auseinanderzusetzen. Aber auch die Menschen in der westlichen Welt wurden durch die Medien, Menschenrechtsorganisationen und kirchlich Engagierten wieder daran erinnert, daß unser engster Partner außerhalb der EU, die Türkei, sich immer noch mit den Altlasten aus dem 1. Weltkrieg herumschlägt und sich davon überhaupt nicht befreien will. Ja nicht einmal die 2,5 Mio. in Deutschland lebenden Türken haben sich jemals über die Christen und ihre Situation in der Türkei betreffend geäußert.
In einigen europäischen Parlamenten wurde der Fall Akbulut behandelt und in einigen von ihnen wurden Anträge um die Anerkennung des Völkermordes an den Christen in der Türkei gestellt.Die Schweden, meine Damen und Herren, einigten sich im Parlament darüber, die Massaker an den Christen nicht als Völkermord, sondern als eine Tragödie oder einen tragischen Unfall zu bezeichnen. Aber die Schuldigen für diese so genannte Tragödie werden weder genannt noch verurteilt.
Priester Akbulut ist kein besonders ausgebildeter Kleriker. Das braucht er in seiner Situation auch nicht. Es geht für ihn darum, für die Gemeinde da zusein und ihren religiösen Bedürfnissen nachzukommen.
Darüber hinaus gehört es aber zum Aufgabenbereich eines syrisch-orthodoxen Priesters in der Gemeinde Recht zu sprechen. Er stellt also eine gerichtliche Instanz für seine Gemeinde dar und muß von Zeit zu Zeit Recht sprechen. Wenn er als Gottesmann nach einem Fall gefragt wird, dann sagt er natürlich das, was für ihn wahr ist und je nach Art und Charakter des Priesters, entweder diplomatisch ausweichend oder undiplomatisch und direkt.
Ein erfahrener Priester hätte sich also di-plomatischer ausgedrückt, als ihn Journalisten nach den Massakern an den Armeniern fragten. Aber wäre dann damit der Türkei gedient? War es nicht endlich Zeit, der Türkei die Wahrheit ins Gesicht zu sagen? Dies hätten meines Erachtens auch die europäischen Freunde tun müssen.

"Ja, es hat einen Völkermord an den Armeniern gegeben, aber auch wir Suryoye wurden massakriert". Dieser Satz, so hoffe ich, ist mit dem Fall Akbulut in die weite Welt getragen worden und auch viele Bürger der Türkei haben ihn gehört. Deshalb hoffe ich, daß auch die Türkei irgendwann einmal in naher Zukunft die Augen öffnet und diese Tatsache anerkennt.
Das würde für die Suryoye die Ereignisse des Jahres des Schwertes, wie die Massaker genannt werden, nicht rückgängig machen. Aber es würde eine vor dem Untergang bedrohte Nation wie die der Suryoye vor demselben vielleicht bewahren helfen.
Die Suryoye wollen vergeben und verzeihen und sich mit ihren Nachbarn versöhnen. Wie sollen sie dies aber tun, wenn sie dafür keinen Gesprächspartner haben, wenn nie-mand sie um Verzeihung oder Vergebung bittet?
Wie die offizielle Seite in der Türkei, so haben auch die Kurden und die kurdischen Organisationen, auch wenn sie die Tatsachen nicht leugnen, sich nie für ihre Taten entschuldigt. Im Gegenteil, erst die kriegerischen Auseinandersetzungen der Kurden mit den Militärs und die Übergriffe paramilitärischer und religiös motivierter kurdischer Banden in den achtziger Jahren auf christliche Dörfer haben den letzten Exodus der Suryoye aus ihrer Heimat in der Südosttürkei ausgelöst.
Auch die Nutznießer der Entchristianisierung der Osttürkei - auch dies sei ausdrücklich gesagt - sind zweifellos die Kurden. Sie waren und sind es, die die Städte und Dörfer, Häuser und Felder, Läden und Geschäfte, Hab und Gut der Christen an sich gerissen haben und heute noch daran festhalten. Zumeist waren sie es, die ihre christlichen Nachbarn wie "Feuer vernichteten" - wie es eine Überlebende schilderte. Die Kurden entschuldigen sich damit, die Türken hätten sie dazu mißbraucht.
Es ist wahr, daß die Türken den Kurden im Falle der Vernichtung der Christen, ihnen ihre Besitztümer versprachen und eventuell auch einen unabhängigen Staat. Das war für den überwiegenden Teil der Kurden Grund genug, ihre christlichen Nachbardörfer zu überfallen. Aber dies entschuldigt die Kurden für ihre Verbrechen nicht. Auch sie müssen offiziell ihre große Schuld an der Christenverfolgung anerkennen und weiterer Verfolgung von Christen, wie es heute noch zum Teil im Turabdin und im Nordirak geschieht, abschwören. Und sie müssen die Suryoye als eine eigenständige Nation mit eigener Kultur, Sprache und Tradition anerkennen und respektieren. Die Suryoye sind nämlich keine kurdischen Christen, genauso wenig wie sie sich als türkische Christen bezeichnen würden, wie neuerdings kurdische Medien propagieren.
Auch zu den armenischen Glaubensgeschwistern sei gesagt, daß es ihrer Sache überhaupt nicht dienlich ist, wenn sie nur von den Massakern an Armeniern sprechen und überall, wo sie können, die Massaker an den Suryoye verschweigen. Sie würden gut daran tun, die Anerkennung des Völkermordes an allen Christen, auch an den Suryoye, zu fordern.
Ich möchte hier nicht unerwähnt lassen, daß es sowohl unter den türkischen Soldaten als auch unter den Kurden einzelne Menschen gab, die versucht haben, Christen vor ihren Peinigern zu retten. Dafür sind einige kurdische Aghas, und einflußreiche Personen, die hier und da ihre Schutzbefohlenen vor dem sicheren Tod bewahrten, namentlich bekannt. Gäbe es diese "ehrbaren" Menschen nicht, hätten noch weniger Christen überlebt.

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