Mitteilungsblatt
Juli 1996
Herausgeber: Mar Gabriel-Verein, Wischhofsweg 31d,
22523 Hamburg
Redaktion: Dr. Klaus-J. Landeck
Derzeitige
Situation im Tur Abdin
Im ersten Halbjahr
1996 schien das Leben im Tur Abdin fast normal.
Zwar gibt es noch immer Gebiete, in denen die PKK
für Unruhe sorgt und die Gefahr allgegenwärtig
ist (im südlichen Teil des Izala-Gebirges,
zwischen den Klöstern Mar Malke und Mar Augen),
aber das Leben in den Dörfern ging seinen festen
Gang: Hochzeiten wurden gefeiert, in Miden wurde
die Wasserversorgung fertiggestellt (wie schon
vorher in Hah und Bakisyan), so daß die Frauen
nicht mehr mit ihren Plastikkanistem zum Brunnen
gehen müssen, das Osterfest wurde wie eh und je
mit dem traditionellen "Picknick" auf
dem Friedhof in Midyat abgeschlossen.
Theologiestudenten aus Salzburg und hochrangiger
Besuch syrischer Christen aus Indien stellten
sich im Kloster Mar Gabriel ein, Jugendliche
trafen sich zu Fußballturnieren, die Klosterschüler
fahren jeden Morgen nach Midyat zur Schule,
unbehelligt.
Blick auf Ayinvert
Dann passiert das:
Mitte Juni werden drei Christen aus Midyat - drei
Silberschmiede - unter dem Vorwand verhaftet, die
PKK zu unterstützen. Sie werden wochenlang im
Polizeigefängnis von Mardin inhaftiert und verhört,
zwischenzeitlich zurück nach Midyat, dann wieder
nach Mardin gebracht. Dort warten sie auf ihren
Prozeß, der nach einer Frist von etwa sechs
Wochen stattfinden soll. Zufall oder nicht: die
Verhafteten gehören zu den "Honoratioren",
einer davon ist Muhtar in Midyat (einer der vier
Stadtteilbürgermeister). Da sie die türkische
Sprache gut beherrschen, sind sie Ansprechpartner
und Stütze der Christen aus den Dörfern, wenn
es z.B. um Eingaben an die Behörden geht. Die
entführten oder ermordeten Christen der letzten
Jahre waren auch durchwegs Funktionsträger,
Der Mar Gabriel-Verein hat sich in dieser Sache
an die deutsche Botschaft in Ankara gewandt, die
sich in der Vergangenheit stets für die Belange
der Christen (indirekt) eingesetzt hat, andere
Mitglieder der Solidaritätsgruppe Tur Abdin sind
ebenfalls aktiv geworden, haben Politiker und
Journalisten informiert, und Amnesty verfolgt das
Geschehen genau. Die Erfahrung der letzten Jahre
hat gezeigt, daß sich "Einmischung"
lohnt, daß die Hinweise und Proteste westlicher
Institutionen auch in der abgelegenen Region des
Tur Abdin erfolgreich sein können.
Ob die neuen politischen Rahmenbedingungen in der
Türkei für die christliche Minderheit so ungünstig
sind wie vielfach angenommen wird, muß
abgewartet werden. Die bisherigen Ereignisse im
Zusammenhang mit dem Hungerstreik scheinen eher
den Pessimisten Recht zu geben. Die erheblichen
innenpolitischen Differenzen eröffnen jedoch
auch Chancen für die Diskussion der
Minderheitenproblematik.
Das größte Problem im Tur Abdin dürfte nach
wie vor die Machtfrage vor Ort sein: Im Südosten
der Türkei herrschen immer noch feudalistische
Verhältnisse, der Einfluß der "Aghas"
scheint manchmal größer als der von Justiz,
Militär und Verwaltung. Die immer kleiner
werdende Gruppe der Christen, die sich nicht nur
durch ihre Religion, sondern auch durch Sprache,
Gebräuche und Lebensrührung von den Kurden
unterscheiden, ist als ethnische Minorität
besonders gefährdet. Noch immer gehört den
Christen, viel Land das nicht in das Grundbuch
eingetragen ist. Werden die Christen zur
Auswanderung gedrängt, fällt dieses Land an die
Aghas.
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