Mar Gabriel Verein - Mitteilungsblatt 1995


Mitteilungsblatt April 1995
Herausgeber: Mar Gabriel-Verein, Wischhofsweg 31d, 22523 Hamburg
Redaktion: Dr. Klaus-J. Landeck

Derzeitige Situation im Tur Abdin (Stand: März 1995)

Kurz vor Weihnachten 1994 meinten wir, auf ein vergleichsweise ruhiges Jahr 1994 zurückblicken zu können. Diese Einschätzung war verfrüht, wie der Mord an dem letzten christlichen Arzt des Tur Abdin, Dr. Tanriverdi, zeigt, (ausführlicher Bericht s.u.). Er hat zu einer weiteren Verunsicherung der christlichen Bevölkerung, insbesondere in Midyat, beigetragen. Die Abwanderungstendenzen haben verständlicherweise zugenommen.

Die Bedrohungen, Entführungen und Morde der letzten zwei Jahre konzentrieren sich auf die "Führungsschicht" der Christen (Priester, Lehrer, Kommunalpolitiker, Ärzte). Es liegt nahe, hier eine gezielte Strategie zu vermuten. Nur das Kloster Mar Gabriel - weltweit in der Christenheit bekannt - ist bisher noch verschont worden. Sollte im nächsten oder übernächsten Jahr das 1600 jährige Bestehen dieses traditionsreichen geistlichen und geistigen Zentrums gefeiert werden, ist zu hoffen, daß davon eine Signalwirkung ausgeht, daß der türkische Staat mit Rücksicht auf die Besucher seinen Schutz- und Fürsorgepflichten in dieser Region besser als bisher nachkommt.

Daß es in diesem Zusammenhang nicht nur um Erhöhung der militärischen Präsenz geht, sondern daß schon ganz einfache Infrastrukturmaßnahmen Wirkung zeigen können, wurde in letzter Zeit deutlich: Die Asphaltierung einiger Straßen, auch des Abzweigers zum Kloster, erfolgte in der erklärten Absicht, die Gefahr für den Verkehr durch Minen (die sich auf unbefestigten Wegen leichter verstecken lassen) zu mindern. In das Kloster Mar Gabriel kann man also unbesorgt fahren (auch die 35 Klosterschüler fahren ja jeden Tag nach Midyat und zurück in die Schule). Anderswo ist dagegen die Gefahr durch Minen allgegenwärtig. Im Dorf Miden z.B. schicken die dort stationierten Soldaten gerne die Dorfbewohner zum Einkaufen in die nächste Kreisstadt, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Und am 26. Februar wurde der 70 jährige Yakub Tanyeli aus Miden beim Hüten seiner Ziegen durch eine explodierende Mine so stark verletzt, daß der linke U-terschenkel amputiert werden mußte.

Davon abgesehen scheint die Entwicklung im Dorf Miden zur Zeit relativ günstig zu verlaufen. Malfono ("Religionslehrer") Lahdo Barinc, der lange Zeit in der Hand seiner Entführer war, bevor er gegen ein hohes Lösegeld freigelassen wurde, und sich zwischenzeitlich in Deutschland aufhielt, will mit einer Familie wieder nach Miden zurückkehren. Mit ihm wollen noch andere Midener heimkehren - alles zusammen etwa zwölf Personen Natürlich ist das nur möglich, weil Miden ein intaktes christliches Dorf ist, das mit seiner Militärstation im Großen und Ganzen im Einvernehmen lebt (in Harapali z.B. gibt es deutlich mehr Probleme zwischen Soldaten und Einwohnern). Außerdem steht Miden wirtschaftlich recht gut da, das Dorf konnte sich mit Hilfe der "Freunde des Tür Abdin" (Prof. Hollerweger, Österreich) einen Mähdrescher anschaffen, den es wiederum gewinnbringend auch an die (muslimischen) Nachbardörfer ausleiht. Es muß an dieser Stelle also deutlich gesagt werden: Miden ist ein Sonderfall. Eine Rückkehr in viele andere Dörfer des Tur Abdin ist derzeitig nicht zu vertreten (z.B. nach Ayinvert oder Zaz) bzw. gar nicht möglich, da die Kurden sich Häuser und Ländereien der Christen angeeignet haben. In der Asyldiskussion und Rechtsprechung müssen solche Regionalaspekte mehr als bisher Berücksichtigung finden.

Grundsätzlich gilt im übrigen: Die Konflikte in Südost-Anatolien und besonders auch im Tur Abdin, werden auf mehreren Ebenen ausgetragen. Es geht nicht in erster Linie um den Gegensatz Christentum - Islam. Dieser erscheint in manchen Fällen nur vorgeschoben. Es geht auch keineswegs nur um den Kampf zwischen Regierung und PKK, obwohl dieser Kampf die gefährliche und unberechenbare Gruppe der "Dorfwächter" (korucu) hervorgebracht hat. Die Vertreibung der Christen hat - was vielfach übersehen wird - in erheblichem Umfang auch wirtschaftliche Gründe. Manche Christen haben noch soviel Besitz (Häuser, Ländereien), daß sie für habgierige Aghas ein lohnendes Opfer sind (andere sind bettelarm, das gilt besonders für die aus anderen Gebieten, z.b. dem Irak, geflüchteten). Die religiösen Gegensätze werden instrumentalisiert und das traditionell angespannte Verhältnis zwischen Kurden und Christen erleichtert den Großgrundbesitzern das Geschäft.
Wenn Bürger von Midyat Angst haben, einen Besucher aus Deutschland zu einem inmitten der Stadt gelegenen Grundstück zu führen, das ein Agha in Beschlag genommen hat, obwohl im Grundbuch immer noch der christliche, nach Deutschland geflüchtete Besitzer eingetragen ist dann zeigt das, wie groß die Macht, der inoffiziellen Herrscher ist und worum es ihnen geht.

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