Mar Gabriel Verein -
Mitteilungsblatt 1994
Mitteilungsblatt
Februar 1994
Herausgeber: Mar Gabriel-Verein, Wischhofsweg 31d,
22523 Hamburg
Noch
Chancen für die syrisch-christliche Kultur auf
dem Tur-Abdin?
Von Helga Anschütz
Kaum eine Region
der Welt weist auf so engem Raum einen so großen
Reichtum an Kulturhinterlassenschaften auf wie
der Tur Abdin im Südosten der Türkei. Zur Zeit
der assyrischen Könige war das bis zu 1500 m
hohe, nach Norden hin zum Tigris und nach Süden
zur syrischen Grenze hin in Steilstufen
abfallende Gebirgsplateau allerdings vorwiegend
durch seinen guten Wein bekannt. Daher wurde es
auch "Berg des Weines" genannt. Später
hinterließen Perser, Griechen und Römer ihre
Spuren. Hier und da kann man im Gelände noch Überreste
des römischen Limes erkennen. Aber richtig in
die Geschichte trat der Tur Abdin erst am Ende
des 4. Jahrh. ein, als Mönche die vielen Höhlen
am Gebirgsrand besetzten und zahlreiche Klöster
gründeten. Danach erhielt das Gebiet den Namen
"Tur Abdin": "Berg der Knechte (Gottes)".
In jener Zeit wurden die Kloster Mar Samuel und
Simeon (heute Mar Gabriel/ Deir Ömer), Deir ez-Zafaran,
Deir Mar Malke, Deir Mar Aho und viele andere
bekannt, insgesamt mehr als 80. Ihr spirituelles
Leben strahlte über Syrien, Mesopotamien und den
Osten des byzantinischen Reiches weit bis nach Ägypten,
wo bis heute das Kloster Deir As-Surian im Wadi
Natrun mönchisches Leben pflegt. Im Kloster Mar
Gabriel werden heute noch die Gräber von
mehreren Tausend Mönchen aus Ägypten verehrt,
die den Tur Abdin als Platz für ihr frommes
Leben gewählt hatten. Besondere Bedeutung
gewannen die Klöster des Tur Abdin im l. Jahrt,
durch ihre großen Handschriftenbibliotheken in
syrisch-aramäischer Kirchensprache: nicht nur
Evangeliare, sondern auch Heiligenviten,
liturgische Bücher und theologische Abhandlungen.
Diese Kultur wurde von Generationen von Lehrern
auf die Schüler weitergegeben, indem sie Texte
mit einer Tinte, die sie aus den einheimischen
Galläpfeln gewannen, auf Gazellenhaut schrieben.
(In arabischer Zeit - nach 640 - war das Gebiet
als "Berg der Galläpfel" bekannt).
In frühislamischer Zeit erlebte der christliche
Tur Abdin und die syrischorthodoxe Kirche eine
große Blüte. In den Klöstern gab es zeitweise
Tausende von Mönchen und auch Nonnen; viele Dörfer
waren durch die blühende Landwirtschaft und den
dichten Wald so reich, daß sie in ihrem Umfeld
bis zu 25 Kirchen errichten konnten. Heute sieht
man - von einigen Klöstern und Dorfkirchen
abgesehen - nur noch Ruinen aus jener Glanzzeit
orientalischen Christentums.
Um 1400 vernichteten die Tartarenscharen unter
Timur Lenk den größten Teil der syrisch-christlichen
Kultur, die damals von Südost-Anatolien bis nach
China reichte. Seit dem 10. Jahrh . fielen
kurdische Nomaden aus dem Hochland über ihre
christlichen Nachbarn her, die durch ihren Fleiß
eine blühende Kulturlandschaft geschaffen hatten.
Es ist der alte Kampf zwischen räuberischen
Nomaden und den schwächeren Seßhaften. Durch
die vielen Verfolgungen, besonders auch im 19.
Jahrh. durch die Kurden, wurde ein Großteil der
syrisch-aramäischen Christen aus ihrer
angestammten Heimat am oberen Euphrat und Tigris
vertrieben. Im l. Weltkrieg drohte ihnen der
Untergang, da sie mit den Armeniern, von denen
sie sich durch Herkunft, (semitische) Sprache und
Geschichte unterscheiden, als Staatsfeinde
angesehen wurden. Ein Drittel fiel den
Verfolgungen zum Opfer. In den Dörfern des Tur
Abdin sind diese Geschichten noch lebendig, können
die Alten noch vom erbitterten Widerstand gegen
kurdische Belagerer erzählen (z.B. in Ayinvert).
In der neugegründeten türkischen Republik
erholten sich die christlichen Gemeinden im Tur
Abdin. 1962 begann die Auswanderungswelle. Damals
lebten über 20.000 syrische Christen im Tur
Abdin. Viele meldeten sich bei der Anwerbestelle
des deutschen Arbeitsamtes in Mardin. Als
Gastarbeiter vor allem in Bayern, Hessen und
Nordrhein-Westfalen faßten sie schnell Fuß,
gelangten zu einem gewissen Wohlstand und holten
ihre Familienangehörigen nach. Die Dörfer des
Tur Abdin wurden leerer, die Position der Zurückgebliebenen
gegenüber den Kurden, die in christliches
Siedlungsgebiet drängten, wurde schwächer.
Besonders die kurdischen Großgrundbesitzer
setzten die Christen durch Überfälle, Entführungen,
Viehdiebstahl usw. unter Druck, um von ihnen
Tribut zu erpressen oder sie aus ihren Dörfern
zu verjagen. Mit der Rückkehr kurdischer
Gastarbeiter aus dem kriegsgeschüttelten Libanon
1975/76 verschärfte sich die Lage im südlichen
Tur Abdin. Viele flüchteten vor Mord und Brand,
vor allem nach Deutschland und Schweden und die
Kurden nahmen Land und Häuser.
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