Tur Abdin - Mar Gabriel



Deir Mar Gabriel - Deir Qartamin - Derömer - Deyr-ul-Umur
Das Kloster wurde im Verlauf seiner Geschichte häufig geplündert, und deshalb gibt es hier kaum noch Kunstschätze. 1970 fanden die kurdischen Räuber nur einige Handschriften, Gefäße und Gewänder von geringerem Wert. Durch Beziehungen und eine Zahlung in unbekannter Höhe konnten die Mönche aber die meisten Gegenstände zurückerhalten.
Heute umfaßt die Klosterbibliothek mehrere hundert Bücher und Manuskripte, die meisten neu, vielfach gedruckt. Einige alte Handschriften in Syrisch und Karschuni aus den vergangenen vier Jahrhunderten werden an verborgenem Ort aufbewahrt.
Das Leben im Kloster ist asketisch; Tag und Nacht läutet die Glocke zu den Gebetsstunden in der Gabrielskirche. Die kirchlichen Fastenzeiten werden streng eingehalten; Fleisch, Milch, Eier und Käse sind dann verboten; man lebt vegetarisch. Das Essen besteht aus Nudeln, Weizenkörnern, Reis, Kartoffeln, Gemüse und Obst. Das ganze Jahr über gibt es Rosinen, getrocknete Feigen, Nüsse und eine aus Weintrauben und Walnüssen hergestellte Süßigkeit.
Für die Umgebung, und nicht nur für die Christen, bedeutet das Kloster "Mar Gabriel" ein gesellschaftliches, soziales und religiöses Zentrum. Hier dürfen sich traditionell auch Liebespaare ohne Aufsicht der Verwandtschaft treffen, um sich ein wenig kennenzulernen. Die Mönche versorgen Kranke in den abgelegenen Dörfern und kümmern sich um krankes Vieh.
Auch werden die Mönche von Zeit zu Zeit in die unbewohnten und noch erhaltenen Klöster entsandt, um für ihre Instandhaltung zu sorgen und die Bewirtschaftung der umfangreichen Ländereien zu überwachen.
Wegen des nur extensiven Anbaus kann das Kloster Mar Gabriel nur zu einem Teil von seinen Landeinkünften leben. Die Bewirtung der Besucher kostet zumeist mehr Geld, als diese bringen. Jedoch bewirken der weltweite Ruf und die bedeutende Geschichte des Klosters, daß immer noch genügend Spenden eingehen. Aber es bleibt die Frage, wie sich die Auswanderung der Tur 'Abdin-Christen auf die Situation des Klosters auswirken wird; ob die wenigen Mönche und Nonnen in dieser Einöde bestehen können, wenn das Kirchenvolk eines Tages aus den Dörfern verschwunden ist und statt dessen nur noch unberechenbare Kurden in der Umgebung leben.
Die Gründung des Klosters, über dessen Geschichte Krüger eingehend gearbeitet hat, wird auf die heiligen Samuel (gest. 406) und Simeon (gest. 433) zurückgeführt. An der Stelle des heutigen christlichen Bauwerks stand in römischer Zeit ein Tempel. Der einheimischen Legende zufolge haben die bei-den Heiligen den Grundstein des Klosters dort gelegt, wo ein von einem Engel gehaltener Stein über dem Boden schwebte.
Nach kurzer Zeit hatte Samuel 400 Mönche um sich gesammelt. Durch ihre Wundertaten, die Heilung von Blinden und Gelähmten, wurden Samuel und seine Klosterbrüder überall rasch bekannt. Auf die wunderbaren Nachrichten hin sandte sogar Kaiser Honorius Gold und Silber.
Samuels Nachfolger Simeon war so bekannt, daß selbst die mächtigen Perser seine übernatürlichen Kräfte fürchteten. Auch befreite er die byzantinische Kaisertochter Theodora von einem Dämon und den Kaiser von einer Augenkrankheit - so die Überlieferung. Kaiser Theodosius (408-450) stiftete dem Kloster die Märtyrer-Kapelle, die Kirche der Muttergottes, die Kirche der Apostel und die Kirche der Vierzig Märtyrer.
In späteren Zeiten wurde das Kloster mehrfach von den Persern verwüstet; viele Mönche erlitten den Tod oder flüchteten nach Sinjar und in die Berge östlich des Tigris, wo sie neue Klöster gründeten. Trotz der vielfachen Heimsuchungen entwickelte sich das Kloster, unter dem Namen "Qartamin" in der syrischen Kirchengeschichte bekannt, zu einem der reichsten und größten des Orients. Sein Grundbesitz erstreckte sich bis nach Sinjar (heute im syrisch-irakischen Grenzgebiet), Nisibis, Hasankeyf und Serwan nördlich des Tigris. Zeitweise lebten hier mehr als l000 Mönche. Im Jahre 580 zogen 800 vornehme Mönche aus Ägypten ins Kloster ein und bauten sich sogar ihre Zellen selbst aus eigenen Mitteln. Durch diesen Zuzug gewann Qartamin noch an Ansehen.
Sein berühmtester Abt und Bischof war Gabriel (664 zum Bischof geweiht), nach dem das Kloster später benannt wurde. Er genoß auch unter den muslimischen Arabern, die nach 636 das ganze Gebiet unter ihre Herrschaft brachten, als Kirchenfürst ein so großes Ansehen, daß ihm der Kalif 'Umar (der türkische Name des Klosters "Deyr-ul-Umur" leitet sich von diesem Kalifen ab) ein Diplom mit der Bestätigung der Jurisdiktion über den ganzen, damals christlichen Tur 'Abdin überreichte.
Zu den bekanntesten Äbten des Klosters Qartamin gehörte Mar Schimun d'Seite (gest. 734), der dem Kloster viele Schenkungen zukommen ließ.
Seit dem Beginn des 7. Jahrhunderts war Qartamin Bischofssitz. 1089 wurde der Tur 'Abdin in die Bistümer Qartamin und Hah aufgeteilt. Die spätere Geschichte verlief wechselvoll. Den Zerstörungen folgten Zeiten des Wiederaufbaus und der Blüte. Zwar hinterließen die Tataren am Ende des 14. Jahrhunderts hier ihre unverwischbaren Spuren, jedoch blieb das Kloster "Qartamin/Mar Gabriel", wenn auch verarmt, bis heute das geistige Zentrum der syrischen Christen im Tur 'Abdin.
Allerdings war es besonders im 19. Jahrhundert durch die zeitweise chaotischen Zustände im Osten des Osmanischen Reiches dem Verfall preisgegeben. Diesen Eindruck erhielten mehrere Reisende auf ihrem Ritt durch den Tur 'Abdin, als sie das nahe am Weg gelegene und von Ruinen umgebene Kloster besuchten. Hier konnten sie aber auf einem großen Hof, vor Überfällen sicher, unter dem Schutz der mächtigen Außenmauern übernachten.
Damals standen vom Kloster die Gabrielskirche mit der großen Steinplatte und der Apsis mit den Goldmosaiken und ein Baptisterium. Um 1850 residierte hier ein Bischof. Das Kloster hieß auch "Deir el Amr".
Um 1870 schilderte der Sprachforscher Socin das Leben der 14 Mönche im Kloster. Diese erinnerten ihn "ihrem Aussehen nach lebhaft an das Bild des heiligen Ephrem, welches der römischen Ausgabe seiner Werke vorgedruckt ist; sie haben dasselbe hagere Gesicht und tragen dasselbe Kleid. - Geistig steht der jakobitische Klerus noch auf bedeutend niedrigerer Stufe als der chaldäische, welcher durch die Verbindung mit Rom nach und nach zum Annehmen einiger Bildung genöthigt wird." - Die Unterhaltung der Mönche habe sich hauptsächlich um Essen und Trinken und das Fasten gedreht. Allerdings hätten sie verschiedentlich versucht, den Reisenden in eine Diskussion über die verschiedenen Naturen Christi zu verwickeln und zeigten damit doch theologisches Interesse. Die Klosterbibliothek enthielt u. a. mehrere Manuskripte über historische Ereignisse und die Lebensgeschichte des heiligen Gabriel.
Noch um 1870 genoß das Kloster auch bei den Muslimen größte Achtung und war von der allgemeinen und der Kopfsteuer befreit. Auch Jesidi wallfahrteten zum Grab des heiligen Gabriel. Jedoch beklagten sich damals schon die Mönche über die großen Unkosten, die ihnen durch die Pflicht der Beherbergung von Reisenden entstünden.
Wundergläubigkeit beherrschte das Denken im Kloster: Kranke wurden durch die Kraft des Heiligen geheilt, plündernde Kurden erblindeten, als sie ihre Hand nach der Kirchentüre ausstreckten. Die meisten Besucher kamen in die Gabrielskirche, betrachteten dort die große Marmorplatte und hinten in einer Apsis die Mosaiken.
Nach dem Gottesdienst zogen die Mönche zu den 14 Heiligengräbern im Garten, wo sie Gebete sangen; anschließend wiederholten sie diese Zeremonie im Kuppelgebäude mit den Gräbern der 600 Mönche und im Totenhaus, wo 10 000 Mönche beigesetzt sein sollen. (Diese Zeremonie findet heute noch während der Fastenzeit und an besonderen Feiertagen statt, wie ich bei meinen Besuchen beobachten konnte.)
Das Kloster wurde mit gutem Zisternenwasser versorgt; in der Umgebung wuchsen Tabak und Rizinus (diese Pflanzen werden hier heute nicht mehr angebaut); außerdem sammelte man Manna und Brustbeeren im Buschwald.
Um 1900 lebten hier nur noch ein Bischof, ein Mönch und eine Nonne; das Kloster war mehrfach von Kurden überfallen und ausgeraubt worden. Trotzdem fand Gertrude Bell hier noch Spuren vergangenen Glanzes. Sie vermutete in den zwei noch erhaltenen Kirchen sogar das Schema babylonischer Tempel und assyrischer Paläste; sie fand auch noch Reste griechischer und persischer Kunst in dem verfallenen Kloster; der Prior war erst 26 Jahre alt und konnte als einziger lesen und schreiben.
Als Preusser das Kloster wenig später besuchte, beobachtete er außer den erwähnten Kunstwerken einen geisteskranken "christlichen Kurden"; er lag gefesselt vor dem Grab des heiligen Gabriel. In den Reiseberichten ist zubeobachten, daß nur die Orientalisten wegen ihrer Sprachkenntnisse den ethnischen Unterschied zwischen syrischen Christen und Kurden erfaßten, während Missionare und Kunsthistoriker beide Gruppen oft als Kurden ansahen. Die äußere Erscheinung, die ähnliche Kleidung, mag sie in dieser Meinung bestärkt haben. Auch heute kann man den Unterschied der beiden Volksgruppen auf einer kurzen Reise nur schwer erkennen.
Nach dem 1. Weltkrieg erholte sich das Kloster "Mar Gabriel" ziemlich rasch von den Zerstörungen. An Bedeutung gewann es durch den Auszug der westsyrischen Christen aus Mardin und seiner Umgebung. Das Kloster Deir ez-Za'faran wurde zunehmend von seinen in den Westen der Türkei abgewanderten Kirchenmitgliedern und Finanziers abgeschnitten; die Zahl der Mönche und Schüler sank dort bis 1978 auf zwei Mönche und etwa 10 Schüler. Das monastische Leben verlagerte sich deshalb in das Zentrum des Tur 'Abdin, das Kloster "Mar Gabriel", wo noch genügend Christen dem Kloster Halt geben können. Seit der Libanon-Krise und der Schließung der Klosterschule von Deir ez-Za'faran 1978 besteht hier die einzige theologische Schule der einstmals an Schulen und Theologen reichen Kirche.

Quelle:
Helga Anschütz, Die syrischen Christen vom Tur Abdin, 1984